Der eine trudelte an diesem 18. Mai 1922 nach Mitternacht ein. Und es wurde getuschelt. Nicht nur, weil er ziemlich angetrunken war, kurz einschlief und zu schnarchen begann. Sondern weil dieser James Joyce einen Straßenanzug trug. Alle anderen waren in Abendgarderobe gekleidet.

Der eigentliche Stargast traf noch später ein. Auch wenn sein Weg kürzer war. Gerade einmal einen Straßenblock entfernt, in der Rue Hamelin, war Marcel Proust aufgebrochen, um zum Hôtel Majestic zu kommen. Dort gab das reiche kunstsinnige englische Ehepaar Schiff ein Diner. Nicht für Joyce, den Autor des im Februar jenes Jahres veröffentlichten Romans Ulysses, nicht einmal für den von Violet und Sydney Schiff hochgeschätzten Proust.

Bild nicht mehr verfügbar.

Ein literaturhistorisches Debakel muss die Begegnung zwischen Marcel Proust (im Bild) und James Joyce gewesen sein.
Foto: Picturedesk.com / Ullstein Bild

Vielmehr fand das Diner zu Ehren Sergej Djagilews, des Impresarios der Tanzcompagnie Ballets Russes, und Igor Strawinskys statt. Anlass war die Uraufführung des Strawinsky-Balletts Le Renard durch die Ballets Russes. Daher war die Menüfolge anschließend im Luxushotel Majestic in der Avenue Kleber – das Ritz hatte sich geweigert, eine halbe Stunde nach Mitternacht noch eine Band spielen zu lassen – eine Abfolge leichter Speisen.

Das konnte nicht verhindern, dass Joyce mit Charme geizte. Und dass Proust, der neben Strawinsky platziert worden war, diesen sogleich mit der ersten Frage verdross.

Wortgeizig

Später sollten viele Versionen über diesen ersten und einzigen Abend kursieren, an dem Joyce und Proust einander begegneten. Alle unterschiedlich ausführlich, aber im Tenor übereinstimmend: Die beiden hätten wortgeizig aneinander vorbeigeschwiegen.

Am Ende lud Proust die Schiffs zu sich ein, Joyce quetschte sich noch mit ins enge Taxi, rauchte, was der Asthmatiker Proust übelnahm. Das Ganze: ein literaturhistorisches Debakel. Das Ganze erinnert an eine jener fiktiven Anekdoten, die der Literaturkritiker Werner Fuld vor 25 Jahren konstruierte, getreu dem Prinzip "Se non è vero, è bon trovato". Wenn schon nicht wahr, dafür gut ge- respektive erfunden.

Im Mai 1922 war der 1919 mit dem Prix Goncourt gekürte Marcel Proust der Star von tout Paris. Sodom et GomorrheII, Teil seines Riesenzyklus Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, lag seit dem 29. April in den Buchhandlungen aus. LeFigaro hatte auf Seite 1 (!) einen Auszug gebracht. Joyce’ Ulysses indes war auf überschaubaren Widerhall gestoßen. Der zum größeren Teil in den Folgemonaten höflich bis höhnisch ablehnend werden sollte. In Lyon gedruckt, in Paris verlegt, war das Buch weder in Großbritannien noch in den USA zu kaufen.

Echos und Schweigen

Bild nicht mehr verfügbar.

James Joyce' "Ulysses" stieß auf überschaubaren Widerhall.
Foto: Picturedesk.com / Everett Collection

Der Ire, dessen Frau Nora ihn ausdauernd sekkierte ob seiner Schriftstellerei, ihr wäre es lieber gewesen, er, der eine schöne Tenorstimme hatte, wäre Sänger geworden, war nie ein Salonlöwe gewesen. Als Bekannte den Versuch unternommen hatten, Joyce, den Literatur-Revolutionär, in einer Abendgesellschaft mit Le Corbusier, dem Schweizer Architektur-Revolutionär, zusammenzuspannen, geruhte Joyce ausschließlich über seine Sittiche Pierre und Pepi zu reden.

Als der englische Romancier Aldous Huxley Joyce zu einem gemeinsamen Abendessen in Paris überreden konnte, blieb der Ire einsilbig und reagierte auf den ebenfalls anwesenden französischen Literatur-Dandy Drieu de la Rochelle mit keiner Silbe – er schmollte, weil die Huxleys als Erstes Rotwein geordert hatten. Den Joyce nie trank, weil er glaubte, le vin rouge schwäche zusätzlich seine schlechten Augen.

Auf den Tag genau sechs Monate nach dem Abend im Majestic, heute The Peninsula Paris, war Proust tot. Damit war das Wunderjahr der Moderne zu Ende.

Wunderjahr der Moderne

In Norbert Hummelts Buch über das Jahr 1922 taucht dieser Abend nur ganz kurz auf. Stattdessen konzentriert sich der in Berlin lebende und aus Neuss am Rhein stammende Lyriker auf drei Meisterwerke des Hochmodernismus, auf Joyce’ Ulysses, T. S. Eliots The Waste Land und Rilkes Duineser Elegien plus dessen Sonette an Orpheus.

Er kontrastiert diese äußerst anspruchsvollen Aufbrüche ins Neue oder, bei Rilke, gloriosen Endpunkte einer schwelgerisch langen Romantik des 19. Jahrhunderts mit der eigenen Familiengeschichte. Mit seiner Großmutter, die 1922 keine 23 Jahre jung war, in Neuss lebte, in einer kleinen Wohnung, die sie mit ihrem Vater, einem Tagelöhner, und ihren Brüdern, Hilfsarbeitern, und ihrer Großmutter teilte, die im Lauf des Jahres 1922 mit 100 Jahren sterben sollte.

Hummelts Großmutter hatte die Volksschule absolviert und arbeitete als Näherin, auf diesem Hof, auf jenem Anwesen, zur Aushilfe. Das ergibt den polyglotten Eliot und Joyce und vor allem zum großbürgerlich-extravaganten Lebensstil des sich in seinem mit Kork verkleideten Schlaf- und Schreibzimmer verbarrikadierenden Proust einen aufregend erdenden Kontrast.

Inspirations-Großschub

Fein und gut lesbar porträtiert Norbert Hummelt die drei so verschiedenen Autoren, Proust, Joyce und den damals in London als Bankangestellter lebenden Thomas Stearns Eliot, der im Frühjahr 1922 zusammen mit dem als Editor-Freund energisch eingreifenden Ezra Pound sein Langgedicht The Waste Land komprimierte, bis es die überzeitlich apokalyptische Tiefenschärfe aufwies, die es noch heute so aufregend macht; 2008 übertrug Hummelt das Poem ins Deutsche.

Ebenso gelungen ist sein Porträt Virginia Woolfs, die an Jacob’s Room schrieb und mit diesem Roman den entscheidenden Schritt zu einer hochmodernistischen Form fand. Noch lebendiger schildert Hummelt Rilke auf Schloss Muzot im Wallis, wie dieser ohne Heizung, ohne Strom, bei Kerzenlicht am Stehpult einen Inspirations-Großschub erlebte und nach Jahren die Duineser Elegien vollendete. Und gleich noch die Sonette an Orpheus zu Papier brachte.

Grenzen und Unterbauch

Was weniger einzuleuchten vermag, ist, dass Hummelt, der analog zu anderen Jahres-Büchern eine Aufteilung in zwölf Kapitel wählte, ein Füllhorn an politischen, technischen, wissenschaftlichen Vorgängen, Erfindungen und Ereignissen rings um die Dichtertrias ausschüttet.

Das ist manchmal nicht unwichtig – so etwa das mörderische Attentat auf den deutschen Außenminister Rathenau am 24. Juni 1922 in Berlin, mit dem im Rückblick der demokratische Niedergang, die Diffusion der Grundlagen der Weimarer Republik eingeläutet wurden. Nicht weniges andere dagegen ist eher pittoreskes bis überflüssiges Chrono-Füllsel.

Was, wenn Hummelt 1922 strikt als Literaturjahr gewählt hätte? Und über mehr Grenzen geschaut hätte? Denn es verwundert durchaus, was Hummelt so alles ausblendet. Zu gern läse man von ihm eine Porträtvignette des amerikanischen Lyrikers Robert Frost, der im Juni 1922 in Vermont zwei Gedichte zu Papier brachte, von dem Stopping by Woods on a Snowy Evening sehr bekannt wurde.

Pablo und Coco

Dass am 3. März F. Scott Fitzgeralds The Beautiful and the Damned in New York ausgeliefert wurde, beschweigt Hummelt ebenso wie die Publikation von E. E. Cummings’ The Enormous Room, Claude McKays Gedichtband Harlem Shadows oder César Vallejos Trilce. Dass am 14. September Sinclair Lewis’ Romansatire Babbitt erschien – kein Wort.

Dass Boris Pilnjak in diesem Jahr seinen modernistischen Erstling Nacktes Jahr drucken lassen konnte, Roman eines erschreckend kunstvoll verwirbelten, trüben, gejagten, bettelarmen Russland vor und während der Oktoberrevolution, auch das sucht man vergeblich. Dass am 20. Dezember Jean Cocteaus Antigone in Paris aufgeführt wurde, Bühnenbild: Pablo Picasso, Musik: Arthur Honegger, Kostüme: Coco Chanel, mit Antonin Artaud als Tiresias, ist Hummelt keine Silbe wert.

Ebenso der tiefschwarze, schaurige Unterbauch der Literatur. Dass H. P. Lovecrafts Story Herbert West-Reanimator im Februar publiziert wurde, dessen Erzählung The Tomb vier Wochen später, dass er im Oktober The Hound schrieb und im Folgemonat The Lurking Fear, bleibt ebenso unerwähnt wie der Umstand, dass vier Wochen nach dem Schiff’schen Diner in Paris der dämonische Okkultist Aleister Crowley, das "Große Tier 666", das Manuskript des ebenfalls hochmodernistischen Diary of a Drug Fiend abschloss. (Alexander Kluy, ALBUM, 18.5.2022)