In Hausschuhen und Leggings navigiert Alla Plis durch die feuchtkalten Gänge der U-Bahn-Station Maidan Konstytutsii im Zentrum von Charkiw. An den Wänden kündigen Plakate Veranstaltungen an, die nie stattfanden: das Thomas-Anders-Konzert am 6. März, ein Symphonieorchester zwei Tage danach. Vor einem stillstehenden U-Bahn-Wagon mit der Nummer 5623 hält Plis inne. "5623 – diese Zahl hat mein Leben verändert und ist für mich wie ein Geburtsdatum." Routiniert legt sie ihre Hände flach auf die Schiebetüren, presst die beiden Hälften auseinander und betritt den dunklen und stickigen Wagon, der die Bewohner Charkiws früher, in einer anderen Zeit, von A nach B transportierte. "Vor dem Krieg bin ich nie mit der U-Bahn gefahren, jetzt ist sie mein Leben."

In Charkiw haben die Bewohnerinnen und Bewohner ihren Alltag in den Untergrund verlegt. Auch Kinder werden hier unterrichtet.
Astrig Agopian

Am 24. Februar, als Russland angriff, dachte Plis noch, dass die Kämpfe bald vorbei sein würden. Doch als aus Stunden erst Tage, Wochen und dann Monate wurden, begann sie den Wagon, ihr vorübergehendes Schlafquartier, das sie mit neun anderen teilt, einzurichten. Mit dem Zeigefinger deutet sie auf die Sitzbänke, auf denen sie neben ihrem 23-jährigen Sohn schläft. An den Fenstern trocknen Socken und Unterhemden auf provisorischen Wäscheleinen. Eine Madonnen-Ikone und eine Toilettentasche mit Medikamenten, das ist alles, was Plis aus ihrer Wohnung im östlichen Teil der Stadt vor zweieinhalb Monaten mitgenommen hat.

Nachrichten aus Russland

Ihren Job als Marketing-Spezialistin hat Plis verloren, genauso ihr Einkommen. "Ich habe das Gefühl, dass ich um zehn Jahre gealtert bin", sagt die Frau, die selbst im angrenzenden Donbass aufgewachsen ist und dort noch immer eine Schwester, Nichten und ihre Mutter hat. Umso härter treffen sie die Nachrichten, die Freunde und Bekannte aus Russland schicken. Flink tippt sie den Zahlencode auf dem Bildschirm ihres Handys ein und zeigt die Chat-Nachrichten. "Das sind Leute, die mich mein ganzes Leben lang kennen und mir plötzlich sagten, dass wir alle Nazis sind. Ich schicke ihnen Fotos aus Charkiw, aber sie glauben mir nicht."

Leben in U-Bahn-Zügen. Die Menschen teilen sich den Platz auf und versuchen ein Auskommen zu finden, so gut es eben geht.
Astrig Agopian

Als die russischen Truppen ihren Angriffskrieg starteten und den Vormarsch auf die Stadt begannen, flüchteten laut der Nationalen Polizei der Ukraine zwischen 30 und 50 Prozent der Bewohner in andere Landesteile oder ins Ausland. Von denen, die geblieben sind, harren seither Tausende wie Alla Plis in den U-Bahn-Stationen der Stadt aus, die in den 60er- und 70er-Jahren des vorigen Jahrhunderts, zu Zeiten der Sowjetunion, tief unter der Erde gebaut wurden. Bereits während des Kalten Krieges, als die Gefahr eines Atomkrieges allgegenwärtig war, sollten sie im Falle eines feindlichen Angriffs als Bombenschutzräume dienen.

Heute treibt ausgerechnet Russland die überwiegend russischsprachigen Bewohner Charkiws in den Untergrund. Einige Stationen weiter nördlich, entlang der blauen U-Bahn-Linie, feiert die Pensionistin Sweta ihren 68. Geburtstag. Ihre beste Freundin Ljuba, 65, sitzt neben ihr auf den Treppen der U-Bahn-Station Akademika Pawlowa. Die Station wird von Polizisten mit Kalaschnikows bewacht. Vor sich haben die beiden Frauen mit den geföhnten Kurzhaarschnitten zwei schwarze Hocker aus Holz platziert, Möbelstücke von zu Hause.

Wäre kein Krieg, hätte sie an einem Tag wie diesem in ihrer Wohnung groß aufgekocht, erzählt Sweta: die beiden Nationalgerichte Borschtsch und Warenyky. An diesem Geburtstag könne sie leider nur Schokoladenkonfekt anbieten, und die geschenkten Tulpen schmücken in einem Marmeladenglas, das als Vase dient, die Treppen.

Keine Privatsphäre

Sweta sagt, dass bestimmt alles gut werde, und beginnt dann zu weinen. Es fehlten ihr derzeit das Tageslicht, das Zeitgefühl und die Nichte, die nach Norwegen geflohen ist. Mit einem Stück Karton versucht sie, ihren Schlafplatz am unteren Ende der Treppe räumlich abzutrennen und dadurch einen Anschein von Privatsphäre zu erzeugen, während aus den Lautsprechern der Station eine Aufsichtsdame in derselben typischen Strenge, in der normalerweise die Ankunft von Zügen angekündigt wird, zur Essensausgabe bittet.

"In Charkiw haben Russen, Ukrainer und Belarussen immer gemeinsam gelebt. Es gab keine Unterschiede zwischen uns. Und jetzt müssen wir uns anhören, dass wir kein Recht auf unsere Existenz haben", sagt Sweta. "Es ist zum Verzweifeln, mein Bruder lebt in Russland und meine Freundin in Belgorod. Als Russland uns angriff, hat sie mir eine Nachricht geschrieben: ‚Keine Sorge, bald seid ihr befreit!‘ Ich konnte es nicht glauben. ‚Von was wollt ihr uns befreien?‘, habe ich gefragt. ‚Wir sind doch frei.‘" An Flucht habe sie bisher nie gedacht. "Das hier ist meine Stadt, meine Heimat, und ich habe das Recht, hier zu leben."

Dimitri Eskow und sein sieben Monate alter Sohn Mischa leben derzeit mit Mama Tetiana ebenfalls in den U-Bahn-Stollen. Mischa unterhält die "Nachbarn" ...
Astrig Agopian

Donnern der Detonationen

Mehr als 600 Zivilisten wurden mittlerweile im Oblast Charkiw seit Beginn des Angriffskrieges getötet, mehr als 2000 Häuser ganz oder teilweise zerstört. Obwohl die ukrainische Armee die russischen Soldaten zuletzt in einer Gegenoffensive aus den Vororten und einigen umliegenden Dörfern Charkiws zurückdrängen konnte, hört der Beschuss mancher Stadtteile nicht auf. Mehrmals täglich zerreißt Luftalarm die Stille der verlassen wirkenden Stadt. Das Donnern der Detonationen begleitet jeden Tag.

Während im Zentrum hunderte Scheiben zerbrochen und einige Häuser zerstört wurden, bietet sich im Wohngebiet Saltiwka im Nordosten von Charkiw die gesamte Wucht der Zerstörung dar. Wohnblöcke, die Schicht für Schicht ihr Inneres zeigen: verbogenes Metall, zerbrochenes Glas, verbrannte Teppiche, zerborstenes Holz, zerrissene Tapeten, zerstörte Möbel, Kleidung, Geschirr. Nur zwei, drei Kilometer von hier entfernt befinden sich noch immer russische Truppen.

Die U-Bahn-Stationen in Saltiwka sind überfüllt mit Bewohnern des Viertels, die nicht wissen, ob es ihre Wohnungen überhaupt noch gibt. In ihrer Verzweiflung haben die Menschen ihr Leben in den Untergrund verlegt: Sie unterrichten ihre Kinder neben den U-Bahn-Gleisen, bieten Dienstleistungen wie Haarschnitte und Maniküre an. An den Wänden hängen Zeichnungen der Kinder. Katzen, Hunde und Kanarienvögel dösen neben den Schlafmatten, während ihre Besitzer apathisch auf ihre Mobiltelefone und Laptops blicken.

Alltag trotz allem

In der Station Studentska sieht eine im Rollstuhl sitzende ältere Frau den sowjetischen Film Entführung im Kaukasus auf einem Flachbildschirm, den Dimitri Eskow, ein 32-jähriger Bauarbeiter, aus seiner Wohnung mitgebracht hat. Auf dem Arm schaukelt Dimitri seinen sieben Monate alten Sohn Mischa, der hier seine ersten Schritte versucht hat und dem in der Station die ersten beiden Zähne gewachsen sind.

... und sorgt dafür, dass die Anderen ihren Optimismus nicht aufgeben.
Astrig Agopian

Mischa ist einer der wenigen, die den älteren Menschen in der Station ein Lächeln abgewinnen können. "Wir hatten solche Angst davor, ein Baby zu bekommen und Fehler als Eltern zu machen. Für uns hat sich alles verändert. Heute wissen wir, dass es sehr einfach ist, ein Baby in einer friedlichen Welt aufzuziehen", sagt Dimitri.

Seine 27-jährige Frau Tetiana kniet sich auf die gemeinsame Schlafmatte und kramt aus einer Ecke ein Schachbrett hervor. Sie strahlt und lacht, versucht die Aufmerksamkeit ihres Sohnes zu gewinnen. "Wir müssen positiv bleiben", sagt sie. "Wenn ich traurig bin, spürt er das." (Reportage: Daniela Prugger aus Charkiw, 14.5.2022)