Nur eine Zahl – so haben weite Teile der Bevölkerung noch im vergangenen Jahr die Inflation wahrgenommen. Ja, Energie wurde im Jahr 2021 zwar empfindlich teurer, aber sonst hielt sich der Preisauftrieb in den meisten Bereichen in Grenzen. So richtig im Empfinden der Allgemeinheit kam die Teuerung im Vorjahr deshalb noch nicht an. Weil sie sich weitgehend auf Energie beschränkte, traf sie noch dazu vor allem wohlhabende Haushalte mit hohem Energieverbrauch. Die aber sind ohnehin reich – sodass ein bisschen Zusatzbelastung kaum ins Gewicht fällt.

Illustration: Fatih Aydogdu

Wie unterschiedlich ist im Vergleich dazu die Situation im Jahr 2022. Heuer kommt die Teuerung voll bei den Menschen an. Im April 2022 lagen die Preise laut Statistik Austria 7,2 Prozent über dem April 2021. Wer musste in den letzten Wochen nicht schon einmal beim Bezahlen tief durchatmen wegen der ungewohnt hohen Beträge? Man merkt es überall; beim Befüllen des Autos an der Tankstelle, beim Kauf der Butter im Supermarkt, beim Bestellen eines Schnitzels im Gasthaus.

Beim Thema Inflation stellt sich beim Einzelnen schnell ein Gefühl der Ohnmacht ein. Alles wird teurer, das bedeutet für viele nämlich, den Gürtel enger schnallen zu müssen, da die Einkommenszuwächse längst nicht mit der Inflation Schritt halten können. Kontrollverlust gepaart mit dem Gefühl, ärmer zu werden – das kann schon an der Zuversicht nagen. Besonders bei jenen, die dies historisch eigentlich nicht so gewohnt sind und von stabilen Verhältnissen ausgehen: der Mittelschicht in Österreich, gewissermaßen das breite Fundament unserer Gesellschaft.

Tief durchatmen beim Bezahlen

Zumal die vergangenen Jahre bereits mehrere Erschütterungen zu bieten hatten. Zunächst die erste Pandemie seit mehr als hundert Jahren, eine gewaltige Belastungsprobe für die Bevölkerung in gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Hinsicht. Ein unsichtbarer Übeltäter wie das Coronavirus, Ausgangssperren während der Lockdowns, der Verlust vieler Arbeitsplätze, Angst um die Gesundheit – all das nährte das Gefühl des Kontrollverlusts. Ebenso wie bald danach der Krieg in der Ukraine. Er erschütterte den jahrzehntelangen Glauben an Frieden in Europa, der sich nach dem Kalten Krieg eingestellt hatte.

Man spürt sie überall
Die Preise waren im April um 7,2 Prozent höher als vor einem Jahr: Ob beim Befüllen des Autos an der Tankstelle, beim Einkauf im Supermarkt, beim Bestellen im Restaurant oder beim Überweisen der Miete – ständig bemerkt man im Alltag die derzeit stark steigenden Preise.
Illustration: Fatih Aydogdu

Wenn dann die im Alter vorangeschrittene Generation über ihren beruflichen und finanziellen Werdegang berichtet, mag viele jüngere Erwachsene ein mulmiges Gefühl beschleichen. Einst, als die Babyboomer in den Spätphasen des Wirtschaftswunders groß wurden, stiegen die Realeinkommen noch stetig.

Der Wohlstand wuchs für die meisten, die heute im Pensionsalter sind oder knapp davor stehen. Jahrzehntelang konnte sich die heimische Mittelschicht nicht nur immer großzügiger mit Fahrzeugen aller Art ausstatten, auch eine Wohnung oder ein Häuschen im Eigentum war zumeist in Griffweite gerückt. Wer sich derzeit dem Lebensabend nähert, blickt auf einen weitgehend sonnigen Tag in zunehmendem Wohlstand zurück.

Was die Mittelschicht überhaupt ist

Aber wie sieht es für nachfolgende Generationen aus? Sehen deren wirtschaftliche Perspektiven tatsächlich weniger rosig aus als jene der Alten? Korrespondiert die allgemeine Zukunftsangst, vor allem bei Jüngeren, mit der realen wirtschaftlichen Lage? Oder sind wir alle nur zu empfindlich geworden?

Die Frage ist nicht leicht zu beantworten. Zunächst muss man klären, was die Mittelschicht überhaupt ist. Hier scheiden sich unter Experten die Geister. Viele Konzepte definieren die Mittelschicht schlicht als die einkommensmäßig mittleren 60 Prozent der Bevölkerung – die verbleibenden 40 wären demnach je zur Hälfte Unter- und Oberschicht.

Das Problem an dieser Definition: Der Anteil der Mittelschicht an der Gesamtheit ändert sich nicht. Ein praktikablerer Zugang ist deshalb, die Armutsgefährdungsschwelle als untere Grenze der Mittelschicht heranzuziehen. Wer in Österreich allein wohnend pro Monat über weniger als 1371 Euro verfügt, gilt als armutsgefährdet – alles darüber zählt zur Mittelschicht. Wie weit diese dann nach oben reicht, ist eine Frage des Ermessens.

Wie es der Mittelschicht ergeht

Wohnen wird massiv teurer
Die Mieten stiegen von 2010 bis 2020 um 44 Prozent: Im vergangenen Jahrzehnt war die Steigerung der Wohnkosten in Österreich doppelt so hoch wie die Inflationsrate. Das bedeutet, dass ein immer größerer Teil der Einkommen für das Wohnen aufgewendet werden muss.
Illustration: Fatih Aydogdu

Wie ist es nun um die Mittelschicht bestellt? Zieht man eine Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) aus dem Jahr 2019 heran, sind die Zukunftsängste vor allem jüngerer Mittelschichtsangehöriger durchaus berechtigt – ein Befund, der, wohlgemerkt, vor Beginn von Corona, hoher Inflation und Ukraine-Krieg gefällt wurde.

"Die Generation der Millennials findet sich deutlich seltener in der Mittelschicht wieder als vorherige Generationen", lautet das Fazit, bezogen auf die reichen Staaten des Westens. Wer zwischen 1983 und 2002 geboren wurde, hat weltweit schlechtere Karten als die Elterngeneration. Die Generation Babyboomer, zwischen 1942 und 1964 geboren, hatte demnach im Alter zwischen 20 und 29 noch zu 68 Prozent ein mittleres Einkommen erzielt. Unter den Millennials erreichten diesen Wert nur noch 60 Prozent.

Laut OECD schrumpft die Mittelschicht in der westlichen Welt. Ihr Anteil ist von 64 Prozent in den 1980er-Jahren auf 61 Prozent im Jahr 2019 gesunken. Die OECD macht dafür die Einkommensentwicklung verantwortlich. Demnach ist das Durchschnittseinkommen der Mittelschicht in den vergangenen drei Jahrzehnten um ein Drittel langsamer gestiegen als das der reichsten zehn Prozent. Die Zukunftsangst hat also ihre Berechtigung: Die lange vorherrschende Erwartung, dass es nachfolgenden Generationen stets besser geht, stimmt heute nicht mehr.

Weniger Stabilität

Die Entwicklung bereitet den OECD-Experten Sorgen. Gehe es der Mitte schlecht, gebe es mehr Kriminalität, eine geringere Zufriedenheit und weniger stabile wirtschaftliche und politische Verhältnisse, warnte im Jahr 2019 der damalige OECD-Chef Ángel Gurría.

Die Realeinkommen sinken
Im Jahr 2022 werden sie um
2,3 Prozent zurückgehen: Seit der Finanzkrise 2008 grundeln die durchschnittlichen Löhne unselbstständig Beschäftigter inflationsbereinigt meist knapp über null herum. Im heurigen Jahr droht laut Prognosen der höchste Reallohnverlust seit 1955.
Illustration: Fatih Aydoğdu

Deutlich nachgelassen hat der wirtschaftliche Auftrieb vor allem durch die Folgen der Finanzkrise des Jahres 2008. Der Arbeitsmarkt litt noch länger an deren Folgen sowie dem regen Zuzug aus den neuen EU-Staaten Osteuropas – 2016 war die Arbeitslosigkeit in Österreich erstmals seit Jahrzehnten auf zweistellige Werte geklettert.

Gleichzeitig stiegen die Wohnkosten enorm an, nämlich im abgelaufenen Jahrzehnt mehr als doppelt so stark wie die Inflationsrate. Während die Verbraucherpreise von 2010 bis 2020 insgesamt um 19,8 Prozent zulegten, verteuerten sich die Mieten im Schnitt um 44 Prozent pro Quadratmeter, zeigen Berechnungen von Agenda Austria.

Dabei spielt auch die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) eine Rolle. Aufgrund ihrer Nullzinspolitik herrscht seit 2016, also nunmehr sieben Jahren, in der Eurozone komplette Zinsflaute. Das trifft insbesondere die Mittelschicht. Sie legt ihr Erspartes gern auf Sparbücher, die keinen Ertrag abwerfen. Reichere Menschen hingegen investieren lieber in – vergleichsweise profitable – Immobilien, Kunst oder Unternehmensanteile.

Blick auf die Reallöhne

Einen genauen Blick auf die Lage der Mittelschicht in Österreich ermöglicht die Lohnentwicklung in Österreich. Konkret: die durchschnittlichen Brutto-Reallöhne, die auch die Inflation berücksichtigen. Das beste Jahr seit Beginn der Aufzeichnungen 1955 ist hier das ferne Jahr 1971. Damals stiegen die Reallöhne im Vergleich zum Vorjahr um stolze 7,7 Prozent.

Laut OECD schrumpft die Mittelschicht in der westlichen Welt.
Illustration: Fatih Aydogdu

Und heute? Spätestens seit der Finanzkrise 2008 grundeln die Werte meist knapp über null herum. Für heuer rechnet das Wirtschaftsforschungsinstitut (Wifo) in Wien aufgrund der hohen Inflation gar mit dem größten Reallohnverlust in Österreich seit dem Jahr 1955. Der oder die durchschnittliche unselbstständig Beschäftigte wird heuer inflationsbereinigt um 2,3 Prozent weniger verdienen als im Vorjahr. Ein negativer Rekord, der das bisher schlechteste Jahr (2011 gab es 1,4 Prozent Reallohnverlust) weit in den Schatten stellt.

Das Fazit dieser Geschichte könnte also lauten, dass die Angst der Mittelschicht, zumal ihrer jüngeren Vertreter, zu Recht besteht. Deren wirtschaftliche Lage und Zukunftsaussichten sind tatsächlich schlechter als jene früherer Generationen. Aber ganz so einfach ist die Sache am Ende auch wieder nicht.

Wohlstand ist auch Ansichtssache

So verzeichnete die Bevölkerung in den 1970er-Jahren zwar üppige Lohnzuwächse – zugleich jedoch waren weniger Menschen erwerbstätig. Konkret blieben Frauen meist im Haushalt, während Männer den Lohn heimbrachten. Heißt, ein Lohn, wiewohl damals höher, musste für mehr Personen reichen.

Und da wäre weiters das allgemeine Wohlstandsniveau. Dieses war vor einigen Jahrzehnten deutlich niedriger als heute. Früher erfreute man sich zwar großzügigerer Lohngewinne, doch gab es weder ausreichend Kindergärten noch eine Busverbindung in die Schule. Die Wohnungen waren beengter; Smartphones gab es auch noch nicht. Kann man angesichts vieler gesellschaftlicher, sozialer und technischer Errungenschaften der jüngeren Vergangenheit wirklich pauschal sagen, es sei früheren Generationen besser gegangen als der heutigen? Wohl kaum.

Fest steht jedenfalls, die Unsicherheit ist heute größer als anno dazumal. "Vor einigen Jahrzehnten galt: Wenn ich eine gute Ausbildung habe, bedeutet das einen existenzsichernden guten Job zu finden", erklärt Wifo-Ökonomin Christine Mayrhuber.

"Heute ist darauf kein Verlass mehr." Man könne beispielsweise trotz erfolgreichen Studiums keine feste Anstellung finden – und in die Armut abrutschen. "Dass die Achse zwischen Ausbildung und Absicherung gebrochen ist, erklärt schon vieles von diesem allgemeinen Gefühl der Zukunftsangst." (Joseph Gepp, Alexander Hahn, 15.5.2022)