Ein zerstörter russischer Panzer steht auf einer Straße in der Nähe des Dorfes Wilchiwka im Osten der Stadt Charkiw.

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Kiew – In der Ukraine werden weiterhin schwere Kämpfe aus dem Osten des Landes gemeldet. Bei einer missglückten Flussüberquerung sollen die Russen große Verluste erlitten haben. Unter dem Eindruck der anhaltenden Kämpfe tritt der Krieg nach Einschätzung Kiews in eine "neue, lange Phase". Dem Land stünden "extrem harte Wochen" bevor, in denen es einem "erzürnten Aggressor" weitgehend allein gegenüber stehe, erklärte Verteidigungsminister Olexii Resnikow auf Facebook.

Vor allem im Osten des Landes setzen die russische Truppen ihre intensiven Kämpfe gegen die ukrainischen Streitkräfte fort – ohne jedoch nennenswerte Fortschritte zu erzielen. Die ukrainischen Soldaten hätten russische Versuche zurückgeschlagen, einen Fluss zu überqueren und die Stadt Sewerodonezk einzukesseln, teilte der Gouverneur der östlichen Region Lugansk, Serhij Gajdaj, am Samstag mit.

Luftaufnahmen von zerstörten Panzern

"An der Grenze zur Region Donezk, auf der Seite der Stadt Popasna, wird derzeit heftig gekämpft", erklärte Gajdaj. Nach Angaben des Gouverneurs erlitten die russischen Truppen schwere Verlusten an Soldaten und Ausrüstung. Aus abgehörten Telefongesprächen habe die ukrainische Seite erfahren, "dass ein ganzes russisches Bataillon sich geweigert hat, anzugreifen, weil sie gesehen haben, was passiert". Luftaufnahmen zeigten Dutzende von zerstörten Panzerfahrzeugen am Flussufer sowie zerstörte Pontonbrücken.

Der ukrainische Generalstab bestätigte in seinem abendlichen Lagebericht am Samstag, dass die russischen Streitkräfte keine nennenswerten Geländegewinne erzielen konnten. "Die größte Aktivität halten die Okkupanten im Raum Sloboschanske und Donezk aufrecht." Demnach bereiten die russischen Truppen Angriffe auf die Städte Sjewjerodonezk, Soledar und Bachmut vor und haben dazu zwei weitere taktische Bataillone an die Front verlegt. Mithilfe von Artillerie- und Luftunterstützung würde der Feind ukrainische Stellungen stürmen. "Er hat teilweise Erfolg in Awdijiwka", heißt es. Die Stadt gilt als ukrainische Festung und wird seit Kriegsbeginn erfolglos von den Russen gestürmt.

Gegenoffensive in Izium

Derweil gelang es der Ukraine nach eigenen Angaben, die russischen Truppen aus der nördlichen Stadt Charkiw zu vertreiben – die für Moskau ein vorrangiges Ziel gewesen war. In der Region Charkiw "konzentrieren sich die Bemühungen des Feindes vor allem darauf, den Rückzug seiner Einheiten aus der Stadt Charkiw sicherzustellen", sagte ein Sprecher des ukrainischen Generalstabs. "Die schrittweise Befreiung der Region Charkiw beweist, dass wir dem Feind niemanden überlassen werden", hatte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in seiner täglichen Videoansprache schon am Freitag gesagt.

Die Ukraine führe eine militärische Gegenoffensive gegen russische Streitkräfte im Gebiet nahe der von Russland gehaltenen Stadt Izium, sagte der Regionalgouverneur von Charkiw, Oleg Sinegobow. "Unsere Streitkräfte sind dort zur Gegenoffensive übergegangen. Der Feind zieht sich an einigen Fronten zurück." Das Gebiet sei eine Schlüsselachse des russischen Angriffs auf die Ukraine.

Weiterhin Kampf um die Schlangeninsel

Im Süden des Landes hingegen versuchen russische Truppen laut Generalstab, sich auf der strategisch wichtigen Schlangeninsel festzusetzen. Dort hätten sie die Luftabwehr verstärkt, meldete der ukrainische Generalstab am Samstagabend. Die Insel vor der Mündung des Donaudeltas war in den letzten Tagen schwer umkämpft. Beide Seiten meldeten dabei eine große Anzahl an Feindabschüssen. Die Angaben konnten unabhängig nicht überprüft werden.

Angriffe aus der Luft und am Boden gab es am Samstag auch erneut auf das Asow-Stahlwerk, teilte der Mariupoler Stadtratsabgeordnete Petro Andrjuschtschenko auf Telegram mit. Er veröffentliche dazu ein Video, das Luftaufnahmen des Stahlwerks unter russischem Beschuss zeigen soll. Woher und von wann die Aufnahmen stammen, kann unabhängig nicht überprüft werden.

"Die Grausamkeit des Feindes nimmt zu", meinte Andrjuschtschenko. Es würden nicht nur die Verteidiger von Mariupol selbst angegriffen, sondern auch ihre Familien. "Gestern haben die Besatzer in den sozialen Netzwerken die persönlichen Kontakte (Telefon, Profile) der Ehepartner ausfindig gemacht", sagte Andrjuschtschenko.

Spekulationen über russische Verluste

Die ukrainische Regierung hatte zuletzt erklärt, alles dafür zu tun, um die Verteidiger von Mariupol über Verhandlungen mit Russland aus der Industriezone herauszuholen. Das sei schwierig, hieß es. Vize-Regierungschefin Iryna Wereschtschuk teilte am Samstag mit, es gehe aktuell um Verhandlungen für 60 Menschen, darunter verletzte Kämpfer und medizinisches Personal. "Dort sind einige Hundert Verletzte, sie müssen zuerst gerettet werden, weil die Russen für alle auf einmal keine Zustimmung erteilen", sagte sie.

Weiterhin nur Spekulationen gibt es über die Anzahl getöteter russischer Soldaten. Der Generalstab der Streitkräfte der Ukraine sprach am Samstag von rund 27.200 toten russischen Soldaten. Zwischen dem 24. Februar und dem 14. Mai habe der Feind außerdem u.a. 1.218 Panzer, 2.934 gepanzerte Kampffahrzeuge, 200 Flugzeuge, 163 Hubschrauber, 2.059 Kraftfahrzeuge und Tankwagen und 13 Schiffe/Boote verloren.

Jüngste Aufnahmen von Reuters-TV am Stadtrand von Kiew werfen ein Schlaglicht auf die Verluste: Auf einem Bahnhofsgelände wurden dort Hunderte Leichen russischer Soldaten in gekühlte Zugwaggons geladen. Darin sollen sie aufbewahrt werden, bis sie nach Russland zu ihren Angehörigen gebracht werden können, sagte der zivil-militärische Chef-Verbindungsoffizier Wolodomyr Ljamsin. Die meisten Leichen seien aus dem Großraum Kiew, einige aus Tschernihiw und anderen Regionen. Auch in anderen Gebieten der Ukraine gebe es solche Waggons, sagte Ljamsin. (APA, 14.5.2022)