Mireille Ngosso und Faika El-Nagashi wollen junge Menschen mit ähnlichen Biografien wie den ihren dazu motivieren, sich politisch zu engagieren.

Foto: Minitta Kandlbauer

Die Lebensgeschichten von Faika El-Nagashi und Mireille Ngosso stehen im Zentrum ihres heute, Montag, erscheinenden gemeinsamen Buchs "Für alle, die hier sind" (Kremayr & Scheriau). Als Person mit ungarisch-ägyptischem Familienhintergrund und lesbische Frau hat die Politologin und Nationalratsabgeordnete El-Nagashi (Die Grünen) genauso wie ihre Kollegin Ngosso, die als Flüchtlingskind aus dem Kongo nach Österreich kam und sich aus sozial schwachen Verhältnissen zur Ärztin und Gemeinderätin (SPÖ) hocharbeitete, eine für die österreichische Politik recht ungewöhnliche Biografie.

Ausgehend von ihren Erfahrungen fordern die beiden eine Politik der Solidarität mit weniger Privilegierten. Konsens herrscht auch zwischen ihnen nicht immer, geeint sind sie aber in ihrem Kampf gegen alle Formen von Diskriminierung.


STANDARD: Ihre persönliche Realutopie für Österreich?

El-Nagashi: Mehr Verteilungsgerechtigkeit. Auf eine Art und Weise umgesetzt, die ein feministisches und antirassistisches Bewusstsein hat. Die Pandemie hätte zum Beispiel eine Chance geboten, zu sehen, wie zentral und volatil der Bereich der Systemerhalterinnen und Systemerhalter ist. Ein Bereich, in dem Frauen, in dem Migrantinnen und Migranten arbeiten.

Ngosso: Es sollte realistisch sein, gesetzliche Rahmenbedingungen zur Antidiskriminierung zu schaffen. Ich würde mir auch wünschen, dass die afroösterreichische Geschichte im Bildungssystem verankert wird. Für mich als Ärztin ist es wichtig, den Bereich der Gendermedizin auszubauen.

STANDARD: All das beschreiben Sie auch in Ihrem Buch "Für alle, die hier sind". An wen richtet es sich konkret?

El-Nagashi: In erster Linie an junge Menschen mit einer ähnlichen Biografie wie unserer. Es soll sie dazu motivieren, es überhaupt einmal als Option wahrzunehmen, in die Politik zu gehen.

STANDARD: Diese jungen Leute erreichen Sie bereits bestens auf Social Media. Allein das Format Buch lässt mich glauben, dass es eher für eine weiße Mehrheitsgesellschaft gedacht ist, die an diese Themen herangeführt werden soll.

Ngosso: Es stimmt, dass wir unsere Bubble gut erreichen, der Diskurs über Antirassismus kann aber nicht nur dort bleiben. Wir brauchen die Solidarität einer weißen Mehrheitsgesellschaft. Ich möchte betonen, dass dieses Buch genauso wie der Begriff Antirassismus kein Angriff ist. Es will niemandem unterstellen, dass er oder sie eine Rassistin, ein Rassist ist. Es geht darum, Menschen dafür zu gewinnen, sich einmal anzuhören, wie es Leuten geht, die unter Diskriminierung leiden.

STANDARD: Sie erklären strukturelle Probleme sehr zugänglich. Trotzdem verwenden Sie Doppelpunkte, um zu gendern, Bezeichnungen wie Flinta* (Akronym für Frauen, Lesben, Inter-, nicht binäre, Trans- und Agender-Personen), schwarz und weiß in Großschreibung auch bei Adjektiven. Sie wissen, dass das oft einen Abwehrreflex hervorruft. Ist das also die richtige Strategie, um ins Gespräch zu kommen?

Ngosso: Sicher merke ich bei meinen Posts in den sozialen Medien, dass immer wieder Angriffe kommen, wenn ich so etwas wie "menstruierende Menschen" schreibe. Durchaus auch von Feministinnen, die das Gefühl haben, durch eine Bezeichnung wie Flinta* gehe das Wort Frau verloren. Was habe ich Diskussionen über das N-Wort geführt! Sprache entwickelt sich weiter, das ist nun mal so, und es ist gut, dass das N-Wort kaum verwendet wird, weil wir als Gesellschaft gelernt haben, was es bedeutet. Wenn ich inklusive Sprache verwende, versuche ich halt, diese Begrifflichkeiten zu erklären, sodass jede Person mitkommt. Es bringt ja nichts, wenn man mich nicht versteht.

El-Nagashi: Sprache ist nun einmal Ausdruck der inhaltlichen Position, die wir vermitteln wollten. Ich habe aber kein Problem damit, wenn ich schwarz mit einer Erklärung großschreibe und jemand anderer schreibt es klein – auch im antirassistischen Bereich gibt es da ja keinen Konsens. Da wird diskutiert, wie genau eine Person of Color definiert ist, ob sich der Kampf von Schwarzen und People of Color überhaupt in einem gemeinsamen Aktivismus ausgeht. Nicht einmal zwischen uns beiden gibt es immer Konsens. Ich verwende in dem Buch und auch sonst das Akronym Flinta* nicht. Mireille tut es schon. Was ich schlimm finde, ist rassistische Sprache, Schreibweisen sind mir weit weniger wichtig.

STANDARD: Wie erklären Sie es sich, dass Menschen lieber Dreadlocks auf weißen Köpfen diskutieren, als über die Lebensrealitäten von Musliminnen und Muslimen oder Pflegekräften in Österreich zu sprechen?

El-Nagashi: Die Mechanismen von Social Media. Es ist einfach, vermeintlich solidarisch zu sein und jemanden mit einem Klick an einen Pranger zu stellen. Das geht halt leicht. Ich halte wirklich nichts von diesen Onlineshitstorms der "Selbstgerechten", wie Sahra Wagenknecht das nennt. Um die Situation der Pflegekräfte zu verändern und verbessern, braucht es ein viel längerfristigeres Engagement, das eine tatsächliche Auswirkung auf das eigene Leben hat.

STANDARD: Wagenknecht sieht Identitätspolitik sehr kritisch. Ihr Buch ist aber Identitätspolitik. Sie emotionalisieren mit Ihren persönlichen Biografien ein politisches Programm. Es hat mich ein bisschen an den Storytelling-Ansatz der US-Demokratin Alexandria Ocasio-Cortez erinnert.

El-Nagashi: Ich habe kein Problem damit, wenn unser Buch als identitätspolitisch wahrgenommen wird. Für mich geht es aber einen Schritt weiter. Wir benennen zwar Unterschiede, weil die auch benannt werden müssen, aber davon ausgehend wollen wir eine solidarische Politik entwickeln, die diese Unterschiede überwindet.

Ngosso: Den Wahlkampf von Alexandria Ocasio-Cortez und Co habe ich sehr genau verfolgt und mich gefragt, was die anders machen: Sie erzählen Geschichten. Ich glaube, dass man viele Menschen nur dadurch erreicht, wenn man auch Stückchen von sich selbst zeigt. Mich haben immer nur Politiker und Politikerinnen angesprochen, in denen ich etwas von mir sehen konnte. Ist das identitätspolitisch? Ja. Aber das finde ich nicht verwerflich.

STANDARD: Sie behandeln in Ihrem Buch Race und Gender beziehungsweise Rassismus und Sexismus ausführlich. Klassenfragen werden nur am Rande gestreift. Warum?

Ngosso: Klasse wird zum Beispiel in dem Kapitel angesprochen, in dem ich über Sozialpolitik schreibe. Klassenfragen waren in meinem Leben ein großes Thema. Ich komme aus einer sozial schwachen Familie, bin am Schöpfwerk großgeworden. Klasse ist wichtig, weil ja alles zusammenhängt: der soziökonomische Status mit der Herkunft und so weiter. Wenn man den sozialen Aufstieg schafft, sich in anderen Kreisen bewegt, vergisst man leider leichter, woher man kommt. Ich muss mich da selbst an der Nase nehmen. Meine ursprüngliche Klassenzugehörigkeit hat sich später darin geäußert, dass ich das Gefühl hatte, ich wäre nicht gut genug, hätte es nicht verdient, in der Politik oder Medizin zu sein. Mich hat dieses sogenannte Hochstapler-Syndrom jahrelang extrem gelähmt.

STANDARD: Frau Ngosso, wie sind Sie in Ihrer politischen Karriere damit umgegangen, dass sich eine Partei wie die SPÖ mit Ihnen als "Poster-Girl" nach außen hin diverser darstellen kann, als sie es eigentlich ist?

Ngosso: Ich habe während meines Wahlkampfs und auch danach viel Unterstützung von meinen Parteikolleginnen und Parteikollegen erhalten, die weit über einen "Poster-Girl"-Status hinausgeht. Generell finde ich es aber nicht schlimm, die "Quote zu sein". Es hat vielleicht manchmal einen komischen Beigeschmack, aber es öffnet Türen für andere, macht People of Color und schwarze Menschen sichtbar in der Politik. Damit kann man schrittweise die Strukturen verändern. Natürlich gibt es allgemein in der Politik auch Rassismus und Sexismus, Politik ist kein Safe Space.

STANDARD: Ihr Aktivismus wird Ihnen öfter zum Vorwurf gemacht.

Ngosso: Das ist mir wurscht. Der Aktivismus treibt mich an, das lasse ich mir nicht nehmen. Was schwierig ist, ist die Gratwanderung. Ich habe ein öffentliches Amt, mit dem Verantwortung einhergeht, die ich ernst nehme und der ich gern nachgehe. Mein Aktivismus ermöglicht mir, aktivistische Gruppierungen und ihre Anliegen als Brückenbauerin mit der Politik zusammenzubringen.

STANDARD: Frau El-Nagashi, wenn man als Nationalratsabgeordnete eine Politik für alle, die hier sind, fordert, bedeutet das implizit, dass die eigene Partei diese Politik nicht macht?

El-Nagashi: Ich würde es weniger als Kritik an den konkreten Parteien, sondern an der Politik allgemein verstanden wissen wollen. Wir beschreiben, was es bedeutet, aus gewissen Kategorien zu kommen und zu sprechen. In der aktuellen Politik geht mit diesen Kategorien eine Hierarchisierung und Abwertung einher, die dann in den Wahlkampfmomenten sichtbar werden. Da sieht man dann, wie über Flucht, Migration oder Musliminnen gesprochen wird.

STANDARD: Trotzdem sind Sie Teil einer Regierungspartei und müssen deren Linie mittragen. Die Abschiebung von Tina, die Sie im Buch auch ansprechen, war nicht nur eine Belastungsprobe für die Koalition, sie widerspricht allem, für das Sie stehen. War da für Sie persönlich die rote Linie nicht überschritten?

El-Nagashi: Die Frage ist, welche Konsequenz man daraus zieht, wenn die rote Linie überschritten ist. Ich habe es bis jetzt in jedem Job so gehalten, dass ich mir die Frage gestellt habe: "Macht es einen Unterschied, dass ich diesen Job mache, oder kann den auch wer anderer machen?" Solange ich diese Frage mit "Ja, es macht einen Unterschied" beantworten kann, habe ich nicht aufgehört. (Amira Ben Saoud, 16.5.2022)