Macht Élisabeth Borne Schluss mit einem der Grundmerkmale der französischen Politik – nämlich ihrer Machokultur? Mit der erfahrenen Ex-Ministerin hat Präsident Emmanuel Macron bewusst eine Frau zur Premierministerin ernannt. Diesen Posten (oder auch das Amt des Staatspräsidenten) haben in der Fünften Republik bisher nur Männer ausgeübt, wenn man von einer Ausnahme absieht: Die Sozialistin Édith Cresson führte von Mai 1991 bis April 1992 bereits einmal eine Regierung.

Mit Élisabeth Borne beginnt vielleicht eine – endlich moderne – Zeitrechnung im politischen Frankreich.
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Cressons nicht einmal ein Jahr dauernde Amtszeit im Hôtel Matignon, dem Pariser Regierungssitz, war ein Desaster. Nicht etwa wegen der Regierungschefin: Die gestandene Berufspolitikerin hatte korrekte Arbeit geleistet. Hingegen wurde sie von der Männerzunft in der Nationalversammlung und zum Teil auch in den Medien nie akzeptiert, sondern ausgegrenzt, ausgebuht, von Beginn an gedemütigt.

Als Cresson von Präsident François Mitterrand ernannt wurde, kommentierte der Mitte-Politiker François d'Aubert bereits süffisant: "Die Pompadour zieht in Matignon ein." Das war eine Anspielung auf die bekannteste Mätresse der französischen Könige. In Frankreich ist es Allgemeingut, dass Ludwig XV. den heutigen Präsidialpalast, das Élysée, 1753 gekauft hatte, um dort die Marquise de Pompadour einzuquartieren.

Cresson: Aufgabe nach wenigen Monaten

Eine Frau im Regierungspalast Matignon – das wollte vielen Politikern nicht in den Kopf. An der Spitze ihrer Männerwelt war Cresson ein Fremdkörper. Monatelang wurde die Premierministerin als "Favoritin" des Wahlmonarchen Mitterrand karikiert. Bis dieser das Handtuch warf, Cresson aus dem Ring holte und nach weniger als einem Jahr wieder einen Mann mit der Leitung der Regierungsgeschäfte betraute.

Der Fall Cresson ereignete sich nicht etwa in den Urzeiten des Patriarchats, in denen der französische Landesvater Charles de Gaulle auf die Frage nach einem Frauenministerium noch geantwortet hatte: "Und warum nicht gleich ein Ministerium fürs Stricken?" Nein, es waren die fortschrittlichen 90er-Jahre. 1995 berief Premierminister Alain Juppé ein Dutzend Frauen in sein Kabinett. Sie erhielten alsbald den Spottnamen "Juppettes", und das nicht nur, weil sie sich elegant kleideten. Und sie waren noch kein halbes Jahr im Amt, als der Premier diese Alibifrauen nicht mehr brauchte und sie kollektiv entließ.

Édith Cresson, heute 88 Jahre alt, war Frankreichs erste Premierministerin – und hatte es besonders schwer.
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Das sorgte für viel Unmut. Juppés oberster Chef, der als Schürzenjänger verschriene Präsident Jacques Chirac, behielt aber seinen Spitznamen "Monsieur zehn Minuten, Dusche inklusive". Und Minister Dominique Strauss-Kahn lebte mit der Reputation, dass es gefährlich sei, als Frau allein mit ihm in den Lift zu steigen.

Anfeindungen auch für Ségolène Royal

Als die Sozialistin Ségolène Royal 2007 als Präsidentschaftskandidatin antrat, erntete sie von ihrem Ministerkollegen Laurent Fabius – heute Chef des hohen Verfassungsgerichts – den Kommentar: "Und wer hütet die Kinder?" Der Linkspolitiker Jean-Luc Mélenchon, der sich heute auf Wahlplakaten mit möglichst vielen Frauen umgibt, machte sich über Royal lustig: "Die Präsidentschaftswahl ist doch kein Schönheitswettbewerb!"

Langsam wurde der Nation klar, dass auf den grassierenden Machismus in Pariser Machtzirkeln beherzte feministische Antworten erforderlich waren. Die 2000 eingeführte Geschlechterparität auf Wahllisten für die Nationalversammlung begann zu wirken – vor allem in den Köpfen. 2012 ernannte Präsident François Hollande 17 Frauen in seiner 34-köpfigen Regierung, und sie empfanden sich nicht wie die "Juppettes" als Statistinnen. Gewiss: Der bekannte Autor Patrick Besson bezeichnete einzelne dieser Ministerinnen als "die Libertäre", "die Verführerin", "Scheherazade" oder "die Geisha". Das fand aber niemand mehr amüsant.

Ségolène Royal wurde 2007 als Präsidentschaftskandidatin von der Männerwelt lächerlich gemacht.
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Élisabeth Borne weiß dennoch, was auf sie zukommt. Cresson, heute 88, wünscht ihr vieldeutig "bon courage", also viel Mut. Sie meint, die neue Regierungschefin bringe bemerkenswerte Qualitäten mit und sei für den Posten "perfekt". Dass Borne ihre Ernennung ihrem Geschlecht verdanken soll – Macron suchte dafür erklärtermaßen eine Frau –, hält Cresson hingegen für "absurd". "Man findet es nur noch in Frankreich besonders, dass eine Frau diesen Job ausübt", so die ehemalige EU-Kommissarin.

Warnung vor Machismo

Auch Philippe Martinez, Vorsteher der kommunistischen Gewerkschaft CGT und früher für hemdsärmelige Männersprüche bekannt, beglückwünschte die neue Regierungschefin, selbst wenn er in ihr eine politische Gegnerin sieht. Zugleich warnte er seine eigenen Mannen: "Vermeiden wir jede Art von machistischen Sprüchen, wie sie aus der Vergangenheit bekannt sind, sobald eine Frau politische Verantwortung übernimmt."

Ob sich die Zeiten wirklich in der Tiefe geändert haben, wird sich erstmals im Juni zeigen: Nach der Parlamentswahl könnte Macron bereits eine neue Regierung ernennen. Dass er Borne dann aber bereits ablösen wird, wie das Mitterrand oder Juppé vorgemacht haben, scheint heute ausgeschlossen. Laut einer Umfrage haben sich 74 Prozent der Wählerschaft eine Frau im Hôtel Matignon gewünscht. (Stefan Brändle aus Paris, 17.5.2022)