Lange Jahre wurde ein Mantel des Schweigens über die Ereignisse des Jahres 1922 in Herrin gebreitet. Aus gutem Grund wollte die Bevölkerung die Vorfälle nicht thematisieren: Zu grauenvoll war das, was sich in dem Wald außerhalb der Stadt abgespielt hatte. Herrin war Schauplatz eines der opferreichsten Konflikte um Arbeiterrechte in der Geschichte der Vereinigten Staaten. Am 21. und 22. Juni 1922 wurde aus einem Arbeitskampf ein Massaker, das 24 Menschen das Leben kostete. Erst vor wenigen Jahren konnte nach längeren wissenschaftlichen Nachforschungen ein Großteil der Opfer auf dem lokalen Friedhof ausfindig gemacht werden.

Das kleine Städtchen Herrin im Süden von Illinois hat heute knapp über zwölftausend Einwohner. Vor hundert Jahren war der Ort im Williamson County ähnlich groß, damals lag die Zahl der Bevölkerung bei gut elftausend. Wichtigster Wirtschaftsfaktor der jungen Stadt war der Kohlebergbau. Doch die Kumpel waren streitbar, schon seit Ende des 19. Jahrhunderts war es in den USA immer wieder zu Protesten und Streiks der Bergbauarbeiter gekommen. Diese mündeten oft in Gewalt. Zwischen 1890 und 1930 kam es zu einer Serie von bewaffneten Arbeitskämpfen, die allgemein als "Kohlekriege" subsummiert werden.

Landesweiter Streik

Am 1. April 1922 beginnt ein US-weiter Streik der in der Bergbaugewerkschaft United Mine Workers of America (UMWA) zusammengeschlossenen Arbeiter. Auch die Arbeiter der Southern Illinois Coal Company (SICC) beteiligen sich an dem Ausstand. Die Kohlegrube der SICC befindet sich auf halbem Weg zwischen Herrin und der Stadt Marion im Osten.

Der Besitzer der Grube, William J. Lester, akzeptiert den Streik zunächst. Doch die Kohlegrube ist erst kurz zuvor eröffnet worden, und Lester sitzt auf einem Schuldenberg, den er zu bedienen hat. Er handelt mit der UMWA aus, dass seine Grube geöffnet bleiben kann, solange die geförderte Kohle nicht verkauft werde. Einige Gewerkschaftsmitglieder können auf diese Weise in der Kohlegrube weiterarbeiten. In den Wochen seit Streikbeginn sammelt sich so eine geförderte Menge von 60.000 Tonnen Kohle an.

Hoher Gewinn winkt

Doch der Streik sorgt für einen Engpass auf dem Kohlemarkt, die Nachfrage treibt den Preis. Für Lester ist es eine einfache Rechnung: Bei einem Verkauf seiner Lagerbestände würde eine Viertelmillion Dollar Gewinn machen. Er bricht also den Deal mit der Gewerkschaft. Seine Arbeiter von der UMWA feuert er, nachdem diese gegen den Kohleverkauf protestierten. Über eine Agentur in Chicago wirbt er neues Personal an. Fünfzig Streikbrecher holt er so von außerhalb nach Herrin. Zum Schutz der Streikbrecher und der Kohlegrube organisiert Lester Wachpersonal, das er mit Maschinengewehren ausstatten lässt. Am 16. Juni verlässt ein Zug mit 16 Waggons, randvoll mit Kohle, das Werk.

Lester behauptet, dass die Dampfbaggerfahrer und Eisenbahner in ihren eigenen Gewerkschaften organisiert seien. Doch in den Augen von UMWA-Chef John L. Lewis handelt es sich bei der International Brotherhood of Steam Shovel and Dredgemen (IBSSD), die Lester kontaktiert hatte, um keine zulässige Arbeitervertretung. Die IBSSD ist aus dem Dachverband American Federation of Labour, zu dem auch die UMWA gehörte, suspendiert worden. Auch an anderen Orten hätte die IBSSD Streikbrecher gestellt, behauptet Lewis. Es handle sich um eine gesetzwidrige Organisation, schreibt der UMWA-Präsident in einem Telegramm, und die Gewerkschaftsmitglieder hätten das Recht, die Arbeiter in der Kohlegrube Lesters als Streikbrecher zu behandeln.

Der regionale IBSSD-Vertreter William J. Tracy erklärt wiederum, dass seine Organisation zwar mehrere Personen auf Anfrage Lesters zu dem Werksgelände geschickt habe, diese jedoch wegen der Wachen umgekehrt seien. Folglich arbeite niemand aus der IBSSD in der Grube in Herrin. Letztlich interessiert Lewis der feine Unterschied ohnehin nicht, ob die von Lester eingesetzten Arbeiter nun gewerkschaftlich organisiert sind oder nicht: Entscheidend ist, dass sie nicht zur UMWA gehören, und diese hat den alleinigen Zuständigkeitsanspruch für die Kumpel.

Gewerkschaft mobilisiert

Gegen das Vorgehen Lesters organisiert die UMWA Bergleute aus Kansas, Ohio und Indiana, die für Proteste nach Herrin anreisen. Die Zeitungen berichten über den Arbeitskampf und drucken Lewis' Aussagen ab, was für eine zusätzliche Mobilisierung sorgt.

Am Morgen des 21. Juni beginnen die Gewalttätigkeiten: Ein Lastwagen der SICC mit Streikbrechern und Wachen an Bord wird bei Carbondale im Westen Herrins überfallen, wobei drei Männer verletzt werden – einer stirbt im Jänner 1923 an den Folgen des Angriffs und wird so das 24. und letzte Todesopfer des Massakers.

In Herrin plündern die Gewerkschafter Waffen und Munition aus einem Geschäft. Am Nachmittag beginnen die UMWA-Leute die Kohlegrube zu belagern, und es kommt zu Schießereien. Die Wachleute erschießen zwei Gewerkschafter, ein dritter erleidet einen Bauchschuss. An den Verletzungen stirbt er am 13. Juli im Krankenhaus von Herrin. Mindestens zwei weitere Belagerer werden angeschossen.

Vergeblicher Hilferuf

Claude Kline McDowell, der Werksleiter der SICC, informiert telefonisch Colonel Samuel Hunter von der Nationalgarde über die Belagerung, nachdem er den zuständigen Sheriff Melvin Thaxton nicht erreicht hatte. Er bittet darum, Truppen zu schicken, die die Eingeschlossenen befreien sollen. Die Nationalgarde setzt sich mit dem Sheriff-Büro in Verbindung, doch dieses reagiert nicht auf die Aufforderung, zum Kohlewerk zu fahren.

Unterdessen versucht die Nationalgarde, die Belagerten mit einem Waffenstillstand in Sicherheit bringen zu können. Lester wird in Chicago erreicht, er willigt ein, seinen Betrieb bis zum Ende des Streiks zu schließen. McDowell wird aufgefordert, die weiße Fahne zu hissen, ein UNWA-Vertreter soll das Gleiche tun. Letzterer begibt sich zwar zum belagerten Werk, zeigt aber die weiße Flagge nicht und behauptet später, dass der Werksleiter ebenfalls das vereinbarte Zeichen nicht gehisst hatte. Die Eingeschlossenen sind in der Folge für die Nationalgarde nicht mehr erreichbar, weil die Leitungen zerstört werden. McDowell hatte sich nicht mehr wie ausgemacht bei Hunter gemeldet. Dennoch setzt auch die Nationalgarde wie auch schon der Sheriff keine Truppen in Bewegung.

Ruhebedürftiger Sheriff

Erst am Abend willigt Thaxton ein, sich zum Werkgelände zu begeben. Allerdings will er sich erst ausruhen, er verspricht, am nächsten Morgen um sechs Uhr zu dem Tagebau zu fahren.

Die Belagerer beginnen unterdessen mit der Zerstörung der Infrastruktur des Tagebaus, sie zertrümmern Bagger und sprengen Gebäude und Fahrzeuge. Die ganze Nacht hindurch wird geschossen. Am nächsten Morgen haben sich bereits mehr als tausend bewaffnete Bergleute vor der Kohlegrube versammelt. Den Belagerten ist mittlerweile die Munition ausgegangen, und den Wachen, die für die tödlichen Schüsse auf die Gewerkschafter am Vortag verantwortlich waren, haben sich in der Nacht abgesetzt.

Kapitulation

McDowell und die Streikbrecher – insgesamt 47 Mann – kapitulieren gegen die Zusicherung, den County verlassen zu können. Der Werksleiter weiß jedoch nicht, dass seine Wachleute Gewerkschafter erschossen haben und diese daher auf Rache aus sind. Die Streikbrecher werden in Zweierreihe auf einen Fußmarsch in das mehrere Kilometer entfernte Herrin geschickt. Doch schon nach wenigen hundert Metern beginnen die Bergarbeiter, mit ihren Gewehrkolben auf die Gefangenen einzuschlagen. McDowell kann schon bald nicht weitergehen – er ist blutig geprügelt und hinkt. Zwei der Bergarbeiter ermorden den Werksleiter in einer Seitenstraße mit vier Schüssen in Kopf, Brust und Bauch.

Der lokale UMWA-Chef Hugh Willis stößt zu dem Tross und erklärt seinen Leuten, sie sollten die Gefangenen nicht direkt neben der Straße töten, es seien zu viele Frauen und Kinder anwesend. Sie sollten ihre Opfer vielmehr in den nahegelegenen Wald führen und sie dort erschießen.

Hilfe kommt zu spät

Als Colonel Hunter und Sheriff Thaxton unterdessen um etwa 8.45 Uhr endlich beim Tagebau eintreffen, finden sie nur ein zerstörtes Werksgelände vor. Einige hundert Bergarbeiter sind damit beschäftigt, mit Kohle beladene Wägen anzuzünden, Gerätschaften zu zerstören und das Firmeneigentum und das Hab und Gut der Streikbrecher zu plündern. Sie erfahren, dass die Gefangenen Richtung Herrin getrieben wurden. Hunter schickt Thaxton dem Tross nach.

Auf dem Weg zur Stadt werden die Gefangenen hinter einem Krafthaus in den Wald bis zu einem Stacheldrahtzaun gebracht. Dort versuchen sie zu fliehen. 26 Männern gelingt die Flucht über den Zaun, während zwanzig niedergeschossen werden. Einige der Bergarbeiter nehmen die Verfolgung auf, während andere ihre Opfer durchgehen und jene erschießen, die noch Anzeichen zeigen, dass sie noch leben. Doch dann verbreitet sich das Gerücht, dass Truppen im Anmarsch seien. Das rettet elf der zwanzig Opfer am Zaun das Leben. Thaxton war um wenige Minuten zu spät, um das Massaker zu verhindern.

Für die geflohenen 26 ist die Gefahr noch nicht vorbei. Einer von ihnen wird an einem Baum erhängt, zusätzlich schießen die Gewerkschafter mehrfach auf ihr Opfer. Zu seinen Füßen werden zwei weitere Männer erschossen.

Gewaltexzess am Friedhof

Sechs weitere werden wieder eingefangen und gezwungen, unter ständigen Prügeln ohne Hemd und Schuhe zum Friedhof von Herrin zu kriechen. Während der Todesmarsch zunächst durch offenes Gebiet geführt hatte, befindet sich der Mob nun bereits in der Stadt. Mehr als tausend Einwohner finden sich ein und feuern die Bergarbeiter in ihrem Blutrausch weiter an. Die sechs Gefangenen werden mit einem Strick an den Hälsen zusammengebunden. Als sie zu Boden stürzen, schießen ihre Peiniger auf sie. Einer der Verwundeten bittet um Wasser, ein anwesender Journalist der Associated Press will ihm helfen und holt Wasser von einem benachbarten Haus. Doch die Bergarbeiter bedrohen auch ihn mit ihren Gewehren: Wenn er nicht selber so Ende wolle, solle er den Eimer auf den Boden stellen. Ein anderer beginnt, den Opfern mit einem Messer die Kehle durchzuschneiden. Der AP-Reporter berichtet später auch von einer jungen Frau mit einem Baby im Arm, die aus der Menge hervortritt und auf die Wunde eines Toten steigt, bis Blut herausfließt.

Zwei der sechs Opfer am Friedhof sind trotz aller Verletzungen noch am Leben, als die Gewalt schließlich endet. Einer der beiden stirbt zwei Tage später im Krankenhaus, der andere überlebt trotz eines Messerstichs in den Hals und mehrerer Schusswunden, unter anderem ins Gesicht. Er wird in der Folge ein wichtiger Zeuge in der gerichtlichen Aufklärung der Vorfälle.

Freisprüche

Allerdings werden in den folgenden Monaten nur gegen sechs Personen Ermittlungen aufgenommen. Nachdem die ersten beiden Prozesse mit Freisprüchen enden, gibt die Staatsanwaltschaft auf und zieht weitere Klagen zurück. Es wird also niemand für das monströse Verbrechen zur Verantwortung gezogen.

Die Leichen der toten Streikbrecher werden nach dem Massaker in der Stadt aufgebahrt. Der Großteil der Einwohner Herrins kommt kam vorbei, um die Opfer zu sehen. Viele beschimpfen die Toten und spucken auf die Leichen. 16 von ihnen werden in einem Massengrab, dem sogenannten Potter's Field, auf dem Friedhof verscharrt. Ein Siebzehnter erliegt Monate später seinen Verletzungen und landet ebenfalls im Armengrab. Am Begräbnis der drei getöteten Gewerkschafter nehmen tausende Menschen teil.

Der genaue Ort der Gräber der 17 Opfer auf dem Friedhof von Herrin gerät rasch in Vergessenheit. Die Gräber sind fast ausnahmslos nicht markiert, in der Stadt hat niemand ein Interesse daran, die Erinnerung an das Massaker aufrechtzuerhalten.

Schwierige Suche nach den Mordopfern

Erst zwischen 2013 und 2015 werden die exakten Positionen der Gräber gefunden. Der Historiker Scott Doody hatte sich im Jahr 2009 ursprünglich auf die Suche nach dem Grab von Antonio Molkovich gemacht. Molkovich war ein hochdekorierter Weltkriegsveteran, er wurde im Wald bei Herrin ermordet und auf dem Friedhof begraben. Doody wusste anhand eines alten Fotos, dass auf dem Grab ursprünglich ein Kreuz mit Molkovichs Name und seinen Kriegseinsätzen aufgestellt war. Doch das Grab war unauffindbar.

Doody begann eine intensive Recherche über das Herrin-Massaker. 2010 begegnete er bei seiner Suche auf dem zehn Hektar großen Friedhof zufällig Steven Di Naso, einem Geologen der Eastern Illinois University. Gemeinsam starteten sie ein interdisziplinäres Forschungsprojekt. Gemeinsam mit dem Geografen Vincent Gutkowski, dem forensischen Anthropologen Robert Corruccini und John Foster, einem ehemaligen Kohlebergarbeiter der UMWA und pensionierten Sheriff.

Raumzeitliches Friedhofmodell

Unter Verwendung eines Geoinformationssystems (GIS) schafften sie es tatsächlich, 2013 die ersten Gräber zu finden. Das Team verwendete für die Suche hunderte Karten, Grafiken, Diagramme, Animationen, 3D-Renderings und Abbildungen. Aufzeichnungen des Friedhofs über fast zehntausend Bestattungen wurden ebenso in die Suche miteinbezogen wie die Medienberichte über das Massaker, die wertvolle geografische Angaben zum Standort der Gräber lieferten. So entstand ein raumzeitliches Modell der Bestattungen auf dem über hundert Jahre alten Friedhof. Der Ort der anonymen Bestattungen konnte auf diese Weise immer weiter eingeschränkt werden. Nach den ersten Funden im Jahr 2013 konnten bis 2015 auch noch die übrigen Gräber identifiziert werden.

Aus der Vergessenheit zurückgeholt

Die vergessenen Opfer des Massakers wurden dank der Nachforschungen des Teams wieder ins Bewusstsein der Bevölkerung zurückgeholt. Für sie wurde am Ort ihrer Gräber ein Gedenkstein errichtet. Am heutigen Jahrestag gedenkt die Stadt Herrin mit zwei Veranstaltungen den Ereignissen vor hundert Jahren. In der Bibliothek der Stadt präsentiert ein Lokalhistoriker die Hintergründe, die zu dem Massaker geführt haben. Am Nachmittag findet eine Gedenkveranstaltung auf dem Friedhof inklusive Salutschüssen und Zapfenstreich statt. (Michael Vosatka, 22.6.2022)

2015 wurde auf dem Friedhof von Herrin ein Gedenkstein für die Opfer des Massakers errichtet
Foto: AP/Alan Scher Zagier
Darauf wurden die Namen von 17 Ermordeten aufgelistet.
Foto: Foto: AP/Alan Scher Zagier
Der Friedhof von Herrin im US-Bundesstaat Illinois. Die Kohlegrube lag zwischen der Stadt und dem benachbarten Ort Marion im Südosten. Teile des Massakers ereigneten sich bei Crenshaw Crossing.