Foto: APA / Daniel Liebl / Zeitungsfoto.at

Die Geister, die man rief, wird man nun nicht mehr los. Mitte des vergangenen Jahrhunderts herrschte in Tirol die Angst vor, man könnte vom Wohlstand umfahren werden. Darum galt es als oberstes Ziel, den touristenbringenden Autoverkehr, der damals mit Wohlstand gleichgesetzt wurde, nach Tirol zu leiten. Zu diesem Zweck wurde die Brennerautobahn (A13) errichtet. Doch die Zeiten haben sich geändert. Heute bringt der Transitverkehr Tirol statt Gästen vor allem Probleme. Über den Brennerpass rollen mehr Lkws als über alle anderen Alpenübergänge zusammengerechnet. Tendenz steigend. Anstelle blühender, prosperierender Landschaften verödete das verkehrsgeplagte Wipptal, durch das die Autobahn von Innsbruck aus auf den Brennerpass führt, zusehends.

So soll die Brennerradbahn einmal aussehen.
Foto: DER STANDARD / Oliver Walde / Fatih Aydogdu

Für den Innsbrucker Oliver Walde ist die Strecke auf die Passhöhe, die Österreich und Italien verbindet, seit jeher "eine Gedankenautobahn". Den passionierten Rennrad- und Gravelbike-Fahrer hat sie zu einer Vision inspiriert, die er über die Jahre immer weiter entwickelt und mittlerweile als umfassendes Konzept zu Papier gebracht hat: die Brennerradbahn (BRB). Analog zur Brennerautobahn, die einst ebenfalls als verrückte Spinnerei von Ingenieuren und Politikern entstanden ist, hat Walde, der ursprünglich aus der Werbebranche kommt, seine Idee mit Gleichgesinnten wie Thomas Pupp, dem ehemaligen SPÖ-Landesrat und Chef des Tyrol Cycling Teams, weitergesponnen.

Drei Routen zum Radeln

Insgesamt drei Radstrecken sollen von Innsbruck ausgehend auf den Brenner führen. Die direkte Schnellverbindung, das Herzstück, wäre entlang der Sill geplant. "Inmitten der beeindruckenden Natur der Sillschlucht mit moderater Steigung von bis zu drei Prozent", erklärt Walde. Flankiert würde diese Hauptroute von der "Snake Line", die architektonisch spektakulär in Pfahlbauweise bis Igls hinaufführt und dann weiter als klassische Radroute über Patsch und Ellbögen an der Ostseite des Wipptals entlangkurvt. Auf der Westseite hat Walde eine Strecke über Natters und Mutters, die auch als Zubringer für Pendler bis ins Stubaital dienen soll, angedacht.

Alle drei Routen treffen sich gemäß Waldes Vision in Matrei am Brenner, das er zum Cycling Cluster Matrei (CCM) transformieren will. Die Ortschaft liegt verkehrstechnisch gut angebunden etwa auf halbem Weg zum Brenner. Sie sei daher prädestiniert für Start-ups oder Firmenableger aus der Fahrradindustrie. Diese sucht angesichts des anhaltenden Booms und der Lieferengpässe aus Asien derzeit händeringend nach neuen, krisenfesten Produktionsstandorten in Europa. "Tirol könnte genau das bieten und damit zugleich Arbeitsplätze in das strukturschwache Wipptal bringen", ist Walde überzeugt.

Auch touristisch könne die BRB neue Akzente setzen, glaubt Pupp, der schon als treibende Kraft hinter der Straßenrad-WM 2018 ein bis dahin für unmöglich gehaltenes Großprojekt in Tirol realisiert hat: "Damit würden wir weltweit für Aufsehen sorgen." Angesichts des Klimawandels sei eine Rückbesinnung auf den Sommertourismus in Tirol Gebot der Stunde. Mit der BRB, im Zuge derer als sogenannte Sideshows zahlreiche Nebenschauplätze in Form von Radrouten entlang der Strecke und in Seitentäler geplant sind, könne man im Bike-Tourismus ein Leuchtturmprojekt schaffen. Angesprochen werden Rennradler ebenso wie Mountainbiker, erklärt Pupp: "Und man müsste dazu wenig neu bauen, sondern meist nur bestehende Wege adaptieren oder freigeben."

Vision oder Spinnerei?

Visionäre Idee oder verrückte Spinnerei? Das Konzept der BRB ist beides. Doch auch die ersten Ideen der Brennerautobahn mit ihren bis dahin unbekannten Dimensionen, was Brückenbauten anging, wurden belächelt. Ebenso wie der Plan, das gesamte Bergmassiv mit dem längsten Eisenbahntunnel der Welt zu unterqueren – 2032 sollen nun die ersten Züge durch den Brennerbasistunnel (BBT) rollen.

Zusammen mit Pupp wurde BRB-Erfinder Walde bereits bei der Tirol Werbung vorstellig. Dort kann Christian Wührer, Leiter der Leistungsentwicklung bei der Tirol Werbung, der Brennerradbahn durchaus etwas abgewinnen: "Wir tun das nicht als Träumerei ab, sondern sehen darin eine Vision, die als wichtiger Impuls Denkanstöße geben kann. Auch wenn es im ersten Moment unrealistisch klingen mag, öffnen solche Ideen doch das Mindset, um über die Grenzen hinaus zu denken."

Idee als Denkanstoß

Walde ist sich der Dimension seines BRB-Konzepts, das er bis hin zu Details wie der Wiederbelebung alter Wipptaler Wirtshäuser als Radelpensionen gesponnen hat, bewusst: "Wir müssen Mobilitätskonzepte neu denken. Und auch wenn nur ein Teil davon umgesetzt wird, kann es ein Anfang für Veränderungen sein." Er verweist auf das Vorbild Brennerautobahn, die zu Beginn ebenfalls über Jahre hinweg in Teilstücken realisiert wurde.

Das Wipptal und der Brennerpass dienten seit jeher als Projektionsflächen großer Mobilitätsideen – von der Römerstraße über die Brenner-Eisenbahn bis hin zur A13 und dem BBT – mit ihrer BRB-Vision wollen Walde und Pupp an diese ideengeschichtliche Tradition der Nord-Süd-Achse anknüpfen: "Denn die Zeit ist reif für Neues." (Steffen Arora, 19.5.2022)