Die Juristin Theresa Margaretha Weiskopf wirft im Gastblog rechtliche und moralische Fragen im Zusammenhang mit der Debatte über den Schwangerschaftsabbruch auf.

Nach dem Leak eines Entscheidungsentwurfs des US Supreme Court scheint ein baldiges Ende des bisher verfassungsrechtlich gesicherten Rechts auf einen Schwangerschaftsabbruch in den USA möglich. Damit rücken einmal mehr komplexe Rechtsfragen, die auch moralisch konnotiert sind, wieder in den Fokus: Ab welchem Zeitpunkt ist "menschliches Leben" schützenswert? Ab wann ist es überhaupt "Leben"? Bereits ab dem ersten Tag der Befruchtung, ab dem ersten Herzschlag, ab dem Zeitpunkt, an dem das Kind selbst leben könnte, oder erst ab der Geburt? Welche medizinischen Kriterien können herangezogen werden, um eine solch brisante rechtliche und moralische Entscheidung zu treffen? Können und sollen potenzielle Interessen überhaupt gegen konkret bestehendes Interesse abgewogen werden?

Die aktuelle Gesetzeslage in Österreich

Das derzeit bestehende Recht auf einen Schwangerschaftsabbruch in den USA sowie in anderen Staaten ist meist an die Stadien einer Schwangerschaft, die in Trimester eingeteilt werden, angepasst. In Österreich ist ein Schwangerschaftsabbruch grundsätzlich nach § 96 StGB strafbar. Im Rahmen der sogenannten Fristenregelung nach § 97 (1) Z 1 StGB wurde jedoch die Möglichkeit geschaffen, dass ein Schwangerschaftsabbruch innerhalb des ersten Trimesters nach einer ärztlichen Beratung und durch eine Ärztin oder einen Arzt rechtlich erlaubt ist. Nach Ende des ersten Trimesters ist ein Schwangerschaftsabbruch strafbar, sofern nicht einer der in § 97 (1) Z 2 StGB verankerten Rechtfertigungsgründe vorliegt. So kann ein Schwangerschaftsabbruch auch später erfolgen, wenn folgende schwerwiegende Gründe vorliegen: Ein Schwangerschaftsabbruch ist die einzige Möglichkeit, um eine ernste Gefahr für das Leben und die körperliche oder seelische Gesundheit der Schwangeren abzuwenden; es besteht die objektive Gefahr, dass das Kind geistig oder körperlich schwer behindert sein wird; oder wenn die Schwangere zum Zeitpunkt der Schwängerung unmündig, also jünger als 15 Jahre war.

Innerhalb des ersten Trimesters (zwölf Schwangerschaftswochen) ist ein Fötus außerhalb des Mutterleibs noch nicht lebensfähig. Der in Österreich rechtlich erlaubte Schwangerschaftsabbruch nach § 97 (1) Z 1 StGB erfolgt also zu einem Zeitpunkt, an dem der Fötus sich nur im Körper der Schwangeren entwickeln und auch dort (über)leben könnte.

Die Gesetzeslage in den USA

In den USA leitete der US Supreme Court 1973 in seinem Grundsatzurteil Roe v. Wade ein Recht auf einen Schwangerschaftsabbruch bis zur Lebensfähigkeit des Fötus aus der Verfassung, genauer gesagt dem Recht auf Privatsphäre und der "due process-clause", ab. Von der Lebensfähigkeit des Fötus wird zwischen der 22. und 24. Schwangerschaftswoche ausgegangen.

Die Richter legten – unter Verweis auf die größeren gesundheitlichen Risiken, die mit einem späteren Schwangerschaftsabbruch für die schwangere Person einhergehen – eine an die Trimester angepasste Stufenregelung fest. Demnach sollte im ersten Trimester ein Schwangerschaftsabbruch uneingeschränkt möglich sein. Einschränkungen seien nur dann verfassungskonform, wenn sie zum Schutz der Gesundheit der schwangeren Person notwendig seien. Im zweiten Trimester sollte ein Schwangerschaftsabbruch ebenso erlaubt und möglich sein, die Bundesstaaten sollten aufgrund des höheren Gesundheitsrisikos jedoch weitere gesetzliche Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit der Schwangeren ergreifen können als im ersten Trimester. Den Schwangerschaftsabbruch im dritten Trimester sollten die Bundesstaaten frei regulieren können.

In den USA wird gegen die Aufhebung des Rechts auf Schwangerschaftsabbruch protestiert.
Foto: IMAGO/Artur Widak

Durch die Anerkennung eines verfassungsmäßigen Rechts auf einen Schwangerschaftsabbruch durch den US Supreme Court wurde den Bundesstaaten die Möglichkeit entzogen, Schwangerschaftsabbrüche gänzlich zu verbieten oder weiter als in Roe v. Wade vorgesehen einzuschränken. 1992 wurde mit dem Urteil Planned Parenthood v. Casey die Entscheidung aus dem Jahr 1973 nochmals bestätigt, die obengenannte Stufenregelung jedoch adaptiert. Bundesstaaten können seither gesetzliche Einschränkungen vorsehen, sofern diese keine "unzumutbare Belastung" (undue burden) für die Schwangeren darstellen.

Nach der Grundsatzentscheidung von 1973 haben Bundesstaaten immer wieder versucht, Schwangerschaftsabbrüche gänzlich zu verbieten oder verstärkt einzuschränken. Die tatsächliche Durchsetzung dieser Gesetze scheiterte bisher jedoch spätestens am Ende des Instanzenzugs unter Hinweis auf die Präzedenzfälle. Seit der Amtszeit von Donald Trump haben jedoch konservative Richter die Mehrheit im US Supreme Court. Einige Bundesstaaten haben daher erneut schärfere Gesetze erlassen, welche Schwangerschaftsabbrüche bereits ab der sechsten oder 16 Schwangerschaftswoche verbieten, und erhoff(t)en sich durch das derzeitige "Machtverhältnis" im Supreme Court das Kippen von Roe v. Wade. Zudem hat eine Vielzahl von Bundesstaaten bereits sogenannte "Trigger-Gesetze" verabschiedet. Diese sollen automatisch mit Aufhebung der Präzedenzfälle in Kraft treten und sehen zum Teil gänzliche Verbote von Schwangerschaftsabbrüchen vor. Mit dem Ende von Roe v. Wade würde daher für viele Schwangere die Möglichkeit eines sicheren und legalen Schwangerschaftsabbruchs –unerheblich, wie es zur Schwangerschaft gekommen ist – gänzlich verloren gehen.

Die unterschiedlichen Regelungen in Amerika, aber auch der Vergleich zwischen Amerika und Österreich verdeutlichen, dass der Zeitpunkt, ab dem das Leben des Fötus/Embryos "beginnt" und als schützenswert gilt, stark unterschiedlich ist.

Todeskriterium als möglicher Anknüpfungspunkt für Lebenskriterium

Die Frage, wann das Leben einer Person zu Ende ist, scheint rechtlich und auch in medizinischer Hinsicht leichter beantwortet werden zu können. In medizinischen Fachblättern – von religiösen und moralischen Ausnahmen abgesehen – scheint verbreitet davon ausgegangen zu werden, dass ein Mensch tot ist, sobald der Hirntod eingetreten ist. Dieser liegt dann vor, wenn das Großhirn, das Kleinhirn und der Hirnstamm endgültig ihre Funktion verloren haben. Angenommen, das Herz des Menschen arbeitet noch selbstständig, aber der Hirntod wurde nachweislich festgestellt, würde man also davon ausgehen, dass der Mensch tot ist. Der Körper mag zwar in manchen Bereichen noch funktionieren, den Menschen, der diesen "ausgefüllt hat", gibt es aber nicht mehr. Dieser Mensch kann sich nicht mehr artikulieren, keine Gedanken mehr fassen und daher auch seine Zukunft nicht mehr frei gestalten. Darüber hinaus ist das Gehirn essenziell für die Funktionsweise des menschlichen Organismus. Das funktionierende Hirn scheint also unerlässlich, damit von einem Menschen ausgegangen wird.

Der medizinische Fortschritt würde zwar eine Aufrechterhaltung der anderen Körperfunktionen ermöglichen, eine Wiederherstellung der Hirnfunktionen oder die Möglichkeit eines Ersatzes gibt es aber nicht. Der hirntote Mensch, so der neurologische Konsens, spürt weder Schmerz, noch ist es möglich, die eingetretenen Schäden rückgängig zu machen.

Tritt der Hirntod ein, scheint es daher moralisch und medizinisch vertretbar, nicht mehr den Patienten an sich zu pflegen, sondern auf eine Behandlung umzustellen, die auf die Transplantationsmöglichkeit seiner Organe abzielt. Alle medizinischen Maßnahmen, die an einem solchen Patienten noch vorgenommen werden, dienen damit nicht ihr oder ihm selbst, sondern anderen Patientinnen und Patienten und damit deren Wohl.

Das Ungeborene, die Mutter und der Hirntote

In welcher Weise unterscheidet sich das ungeborene Kind vom hirntoten Menschen? Medizinisch sind die beiden vergleichbar. Bei der rechtlichen Regelung von Schwangerschaftsabbrüchen wird aber nicht darauf abgestellt, ob alle notwendigen Hirnfunktionen bereits entwickelt sind, deren Wegfall zu einer Hirntoddiagnose führen würde. Der Versuch, den Beginn und das Ende des Lebens an einer solchen Symmetrie festzumachen, wird insofern kritisiert, als der Fötus sich ja durchaus noch entwickeln kann.

Und dennoch: Wieso stellt man beim einen in Diskussionen oft auf dessen pure Existenz ab, beim anderen jedoch auf messbare Werte und strikte wissenschaftliche Evidenz? Der Abbruch einer ungewollten Schwangerschaft wirkt sich (zumindest auf lange Sicht) positiv auf die physische und psychische Gesundheit der ungewollt Schwangeren aus. Wie kann ein potenzielles Interesse des noch gar nicht existierenden Menschen das Interesse des tatsächlich existierenden Menschen der bereits über eine Vielfalt an Verantwortung, Plänen und Träumen verfügt, überwiegen? Es drängt sich die Frage auf, wieso es zu dieser unterschiedlichen Herangehensweise und dem scheinbar unterschiedlichen moralischen Kompass bei der Festlegung des Beginns und des Endes des Lebens kommt. Wieso tendieren wir beim Ende eher dazu, wissenschaftlichen Daten zu vertrauen, stellen beim Beginn jedoch auf unterschiedlichste Gesichtspunkte ab?

Abstrakte und konkrete Interessen

Potenzielle Interessen werden im juristischen Diskurs durchaus wahrgenommen und in Entscheidungsfindungen einbezogen. Gerade im Bereich des Umwelt- und Klimaschutzes wird Bezug auf die "Interessen künftiger Generationen" genommen. Im Hinblick auf die angesprochenen Themenkomplexe ist dies begrüßenswert und vor allem nachvollziehbar. Ein Leben in extremen Klimabedingungen mit allen zusätzlichen Problemen, die damit einhergehen, kann im Grunde in niemandes Interesse sein. Wenn es aber wie bei einem Schwangerschaftsabbruch auf die individuelle Situation ankommt, scheint es zumindest moralisch überzeugender, die Interessen der bereits lebenden Person überwiegen zu lassen. Die schwangere Person sollte selbstständig entscheiden können, ob sie eine Schwangerschaft auf sich nehmen möchte. Wie es zu dieser gekommen ist, darf und soll für die Entscheidungsfreiheit und Option an sich keine Rolle spielen.

Die Frage, wie lange diese Option bestehen soll, wird bewusst offengelassen. Dieser Blog soll Leserinnen und Leser dazu anregen, die eigenen moralischen Überzeugungen zu überdenken und zu hinterfragen. Denn im Grunde geht es beim Recht auf Schwangerschaftsabbruch vor allem um solche. Die Frage, die sich vordergründig stellt, ist jene, ob Frauen und gebärfähigen Personen ebenso wie Männern ein Recht auf ein selbstbestimmtes Leben zugestanden wird. Das Recht, frei über den eigenen Körper zu entscheiden, ist einem solchen selbstbestimmten Leben jedenfalls inhärent. Zudem kommt noch ein weiterer Gesichtspunkt ins Spiel, der nicht übersehen werden sollte: Wie weit soll der Staat in die Privatsphäre und Lebensgestaltung der Staatsbürgerinnen und Staatsbürger eingreifen? Soll er in die höchstpersönliche Entscheidung, ein Kind auszutragen und auf die Welt zu bringen, eingreifen, oder ist es diesbezüglich eher angebracht, dass seitens des Staates Rahmenbedingungen geschaffen werden, in denen diese Entscheidung wirklich frei und selbstständig getroffen werden kann? (Theresa Margaretha Weiskopf, 23.5.2022)