Der Historiker Bernhard Palme erklärt im Gastblog, warum der Fund des Papyrusblatt den großen jüdischen Aufstandes in Ägypten und die hohen Verluste der römischen Armee bezeugt.

Die Ereignisgeschichte klopft nicht oft an die Türe der Papyrologinnen und Papyrologen. So detailliert und bunt die dokumentarischen Papyri vielfältige Aspekte des Alltagslebens im griechisch-römischen Ägypten illustrieren, so selten erwähnen sie konkrete geschichtliche Ereignisse. In einigen Fällen weisen jedoch Indizien im Text auf den historischen Hintergrund und Kontext, der zur Niederschrift des Dokuments geführt hat. Ein solches seltenes Beispiel ist das auf den ersten Blick unscheinbare Papyrusblatt, das unter der Inventarnummer P.Vindob. L 2 in der Papyrussammlung der Österreichischen Nationalbibliothek aufbewahrt wird.

Das Papyrusblatt, kaum größer als eine Handfläche, ist wohl (annähernd) vollständig erhalten, was daran erkennbar ist, dass die Beschriftung nirgendwo über die Ränder hinausläuft. Der Papyrus ist auf beiden Seiten beschriftet, doch ist der Text auf der Verso-Seite weitgehend abgerieben. Dagegen ist die Vorderseite gut lesbar und zeigt einen in schwarzer Tinte verfassten lateinischen Text. Dies alleine ist schon bemerkenswert, da im römischen Ägypten – wie in allen anderen Provinzen des östlichen Mittelmeerraumes – nicht Latein, sondern das seit hellenistischer Zeit fest etablierte Griechisch die Sprache der römischen Verwaltung gewesen ist. Latein wurde lediglich als Kommandosprache der Armee und als offizielle Sprache in der Kanzlei der Statthalter verwendet. Deshalb ist die Zahl der lateinischen Papyri im Vergleich zu den griechischen verschwindend klein. Dies spiegelt sich auch in den Beständen der Papyrussammlung wider: Kaum 150 lateinische Texte stehen über 60.000 griechischen gegenüber.

Österreichische Nationalbibliothek

Die Art des Schriftstückes

Die lateinische Sprache weist P.Vindob. L 2 also in das Milieu jener Dokumente, die im Umkreis der römischen Autoritäten, des Militärs oder der Kanzlei des Statthalters in Ägypten entstanden sind. Auf beiden Seiten erscheint dieselbe lateinische Handschrift, die eine etwas ungelenke capitalis rustica der Hohen Kaiserzeit repräsentiert. Einige Gelehrte haben die Schrift als "ungeübt" eingestuft, aber nur auf den ersten Blick wirkt sie so. Der Schreiber lässt keine Unsicherheiten im Duktus oder unbeholfene Buchstabenformen erkennen, auch wenn er fast ohne Ligaturen auskommt. Wir haben also eher einen geübten, aber eiligen Schreiber vor uns, der rasch und flüchtig seinen Text hinwirft. Paläographie und Form des Schriftstückes sprechen dafür, dass es sich um ein Konzept oder eine Notiz handelt. Darauf weisen auch zwei Eintragungen (Zeilen 6 und 8), die durch Durchstreichung getilgt wurden. Für die notizenhafte Art des Schriftstückes spricht zudem die nachträglich eingefügte Zeile 32 in der rechten Kolumne. Vergleicht man unser kleinformatiges Schriftstück mit den offiziellen Dokumenten aus den Kanzleien des römischen Militärs, dann fällt sein vorläufiger Charakter sofort ins Auge.

Der Inhalt des Dokuments

Der gut lesbare Text auf dem Recto beinhaltet in zwei Kolumnen eine Namensliste, die durch verschiedene Überschriften gegliedert ist. Entscheidend ist die Nennung der beiden römischen Legionen, die im 1. und frühen 2. Jh. n. Chr. in Ägypten stationiert waren: der legio III Cyrenaica (Kolumne I, Zeile 1 und Kolumne II, Zeilen 5 und 14) und der legio III Deiotariana (Kolumne I, Zeile 19). Die eilig niedergeschriebene Aufstellung listet also die Namen von Soldaten der beiden Einheiten auf. Die Namen der Legionäre sind so angeführt, wie es in der frühen und mittleren Kaiserzeit der gängigen, offiziellen Form entsprach: nomen gentile und cognomen, aber kein praenomen.

Die Namensliste wird durch verschiedene Überschriften gegliedert: Als Überschriften sind einerseits die Nummern und abgekürzten Namen der beiden Legionen zu sehen. Als eine Art Zwischenüberschrift fungieren andererseits die Zenturien, die durch das "C inversum", gefolgt vom Namen des Zenturio im Genitiv, angegeben sind. Das "verkehrte C", ähnlich dem Zeichen >, ist eine aus vielen anderen Militärpapyri sowie aus zahlreichen Inschriften bekannte Abkürzung für centuria, die direkt aus der Praxis der Militärkanzleien kam und im gesamten Imperium Romanum verbreitet war. Außer den Legions- und Zenturienbezeichnungen gibt es noch drei andere Wörter, die zur Gliederung der Liste aufscheinen: on(e)ro, bareton und tetates, die dem Militärjargon, dem sermo castrensis, angehörten und mit Ausnahme von tetates für uns rätselhaft sind. Das Schriftstück stammt demnach ohne Zweifel aus dem Milieu des römischen Militärs, berücksichtigt aber zwei Legionen und kann daher nicht aus der Buchhaltung einer einzigen Einheit stammen.

Wichtig ist die Beobachtung, dass in mehreren Zeilen vor den Namen der Soldaten zusätzliche Kennzeichnungen angebracht sind: ob in Zeile 6; pr in Zeile 8, tr in Zeile 14; te in den Zeilen 12, 13 und 17. Alle diese – ohne ein Kürzungszeichen – gekürzt geschriebenen Wörter lassen sich mit Fachtermini des Militäjargons in Verbindung bringen. Mit te korrespondiert zudem das ausgeschriebene Wort auf dem Verso, Zeile 18: tetatẹ[s]. Das bestätigt die Vermutung, dass te als t(h)etas aufzulösen ist. Es ist das sogenannte Theta Nigrum, das in der römischen Kanzleipraxis für "gefallen" steht und aus mehreren römischen Militärdokumenten auf Papyrus und Inschriften bekannt ist. Ursprünglich hat man dem Namen eines im Kampf gefallenen Soldaten das griechische Θ für θάνατος "Tod", oder θανών "gestorben" vorangesetzt. Daraus hat man das lateinische Wort thetatus gebildet, oder, wie in unserer Liste, t(h)etas – der Plural ist in Zeile 38 und auf dem Verso Zeile 18 als tetates ausgeschrieben. Auch in unserer Liste sind also diejenigen Soldaten, vor deren Namen te steht, als "gefallen" gekennzeichnet.

Unschwer lassen sich dann die anderen drei Abkürzungen vor den Soldatennamen zu weiteren militärischen Fachtermini auflösen: tr in Zeile 14 steht für tr(anslatus), "versetzt"; pr in Zeile 8 repräsentiert pr(omotus), "befördert", und für ob in Zeile 6 kommt nur die Auflösung zu oḅ(iit), "gestorben", sinnvoll in Frage. Im Unterschied zu t(h)etas dürfte aber oḅ(iit) nicht einen Gefallenen bezeichnen, sondern einen Soldaten, der eines natürlich Todes ohne Feindeinwirkung verstorben ist. Es passt sehr gut zu diesem Befund, dass sowohl der Name hinter tr(anslatus) als auch jener hinter oḅ(iit) durchgestrichen ist. Beide Soldaten befinden sich nicht mehr im Ist-Stand ihrer Einheit. Wegen der Eintragungen t(h)etas und des Plurals als tetates in Zeile 38 und nochmals auf dem Verso in Zeile 18 hat man vermutet, dass wir eine Liste von Gefallen vor uns haben. Dagegen lässt sich jedoch einwenden, dass die tetates nur eine von (mindestens) drei Kategorien sind: Auch wenn die Wörter bareton und onero für uns rätselhaft bleiben, müssen sie andere Kategorien als Gefallene bezeichnet haben. Immerhin können wir festhalten: Die Liste gibt Auskunft über die Veränderungen im Personalstand der beiden Legionen, insbesondere über die Abgänge, wobei uns die flüchtige Form verrät, dass wir bloß eine vorläufige Notiz vor uns haben, kein aprobiertes Dokument aus einer Kanzlei.

Die Rückseite des Papyrus.
© Österreichische Nationalbibliothek

Die Datierung

Obwohl unser Schriftstück kein Datum trägt, gibt es doch einige indirekte Hinweise, die es erlauben, seine Entstehungszeit auf wenige Jahre einzugrenzen: Zunächst die beiden genannten Legionen. Die legio III Cyrenaica und die legio XXII Deiotariana lagen bis mindestens 119 n. Chr. gemeinsam in Ägypten, wie wir aus dem Papyrus BGU I 140 verlässlich wissen. Die beiden Legionen hatten ihr gemeinsames Hauptquartier in Nikopolis, vor den Toren Alexandrias. Nach dem Jahr 119 n. Chr. fehlt jedoch für die legio XXII Deiotariana nicht nur jeder weitere Hinweis auf ihre Anwesenheit in Ägypten, sondern überhaupt auf ihre weitere Existenz. Da zu Beginn des 2. Jh. die papyrologische Evidenz besonders dicht ist, hat man vermutet, dass diese Legion aufgelöst wurde, weil sie bei der Niederschlagung des großen jüdischen Aufstandes in Ägypten (115–117 n. Chr.) und den folgenden Unruhen in Alexandria bis 122 n. Chr. versagt hatte. Doch abgesehen vom weiteren Schicksal dieser Legion ist sie bis 119 n. Chr. definitiv in Alexandria nachgewiesen – und das stellt den Terminus ante quem für unseren Papyrus dar.

Wie sieht es aber mit dem Terminus post quem aus? Viele Legionäre tragen, wie üblich, das nomen gentile des Kaisers, unter dem sie oder ihre Familien das römische Bürgerrecht erhalten haben: Viermal lesen wir Iulius, sechsmal Claudius, dreimal Domitius, zweimal Flavius, einmal aber auch – und das lässt aufhorchen – Cocceius und dreimal Ulpius. Cocceius bezieht sich auf Kaiser Nerva (18. September 96 – 27. Jänner 98), Ulpius auf M. Ulpius Traianus, der vom 27. Jänner 98 bis zum 9. August 117 n. Chr. Kaiser war. Unsere Liste enthält also mindestens drei Soldaten, die nach dem Regierungsantritt des Trajan im Jänner 98 n. Chr. rekrutiert worden sind. Wenn man vom üblichen Rekrutierungsalter ab (frühestens) 17 Jahren ausgeht, erhält man als das früheste mögliche Datum der Liste das Jahr 115 n. Chr. Wir können folglich erschließen, dass die Liste zwischen 115 und 119 n. Chr. niedergeschrieben wurde. 

Der historische Kontext

Durch seine Entstehungszeit und die Art seiner Aufzeichnungen erhält das vorliegende Papyrusdokument historische Bedeutung: Es stammt aus den Jahren des großen Aufstandes der Juden in der westlichen und östlichen Diaspora, der sich einerseits gegen die römische Herrschaft, andererseits gegen die – als Mitträger dieser Herrschaft betrachteten – griechisch-sprachigen Teile der Bevölkerung richtete. Durch oppressive Maßnahmen seit dem großen Jüdischen Krieg 66–73 n. Chr. bedrückt, machte sich die Unzufriedenheit der jüdischen Bevölkerung in Mesopotamien, in Zypern, der Kyrenaika und auch in Ägypten durch Tumulte bemerkbar, die bald zu blutigen Auseinandersetzungen führten. In den historiographischen Quellen, aber auch in der papyrologischen Evidenz wie der zufällig erhaltenen Korrespondenz des Bezirksvorstehers Apollonios ist von bürgerkriegsähnlichen Zuständen insbesondere in Alexandria, aber auch in verschiedenen Landesteilen Ägyptens die Rede. Die römische Regierung beantwortete den Aufstand mit militärischer Gewalt, so dass die Situation eskalierte. Nach erbitterten Kämpfen endete diese Auseinandersetzung zwischen den Juden und dem römischen Staat schließlich mit einer Katastrophe für das ägyptische Judentum. Nachdem der Aufstand vom römischen Militär niedergeschlagen wurde, waren die bis dahin blühenden jüdischen Gemeinden Alexandrias und anderer ägyptischer Städte zerschlagen und die Juden so dezimiert, dass die jahrhundertelange Tradition jüdischen Lebens und jüdischer Kultur in Ägypten nahezu verschwunden ist und erst nach langer Zeit langsam wieder Fuß fassen konnte.

Die Vorderseite des Papyrus.
© Österreichische Nationalbibliothek

In unserer Soldatenliste fällt auf, dass zwei der neun Zenturien (Kolumne I, Zeilen 10 und Kolumne II, Zeile 30) ohne nachfolgenden Namen eines centurio stehen, also zu dieser Zeit keinen Kommandanten hatten. Zudem sind mindestens acht der 28 aufgelisteten Soldaten als "gefallen" bezeichnet. Gerade in Ägypten, das keinen Attacken auswärtiger Feinde ausgesetzt war, lässt die Erwähnung von gefallenen Soldaten aufhorchen. Die außergewöhnlich hohe Zahl von Gefallenen und von vakanten Offiziersstellen führt in Hinblick auf die Datierung der Liste zu der plausiblen Vermutung, dass das vorliegende Dokument aus der Zeit des großen jüdischen Aufstandes in Ägypten stammt und somit die hohen Verluste der römischen Armee in dieser blutigen Auseinandersetzung bezeugt, die von beiden Seiten mit großer Härte und Erbitterung geführt wurde. Die vorliegende, notizenhafte Aufstellung dürfte demnach eine erste Zusammenstellung der "Abgänge" aus den beiden Legionen darstellen, die sich vermutlich auf einen bestimmten (kurzen) Zeitraum bezog und wohl als Gedankenstütze oder Entwurf für spätere, reguläre Aufzeichnungen im Hauptquartier des beiden in Nikopolis stationierten Einheiten diente. Doch auch in seiner flüchtigen Form gibt das Dokument zu erkennen, dass die römische Armee während des Diaspora-Aufstandes von 115–117 n. Chr. in Ägypten ähnlich hohe Verluste erlitten haben dürfte, wie später in dem großen Bar-Kochba-Aufstand 132–136 n. Chr. in Judäa. (Bernhard Palme. 25.5.2022)

Bernhard Palme ist Direktor der Papyrussammlung und des Papyrusmuseums der Österreichischen Nationalbibliothek sowie Professor für Alte Geschichte und Papyrologie an der Universität Wien.

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