Der ehemalige Botschafter glaubt nicht, dass die Stimmung in Russland in Bezug auf Präsident Wladimir Putin in naher Zukunft kippt.

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Rüdiger von Fritsch hofft weiter auf eine diplomatische Lösung des Ukraine-Kriegs.

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Rüdiger von Fritsch, der fünf Jahre lang deutscher Botschafter in Russland war, fühlt sich nach wie vor mit den Menschen dort verbunden. Umso sorgenvoller schaut er in die Zukunft, plädiert aber dafür, die Hoffnung auf eine Lösung nicht aufzugeben.

STANDARD: Sehen Sie aktuell irgendeine Chance, auf diplomatischem Wege auf Wladimir Putin zuzugehen?

Von Fritsch: Wir haben gesehen, dass eine Vielzahl von führenden Persönlichkeiten aus aller Welt sich bis zum Kriegsausbruch nachhaltig darum bemüht haben, zu versuchen, diesen Konflikt zu deeskalieren. Aber Putin hat mit seiner Aggression die Diplomatie an ihre Grenzen geführt. Natürlich bleibt sie auch jetzt wichtig, aber wenn selbst der Generalsekretär der Vereinten Nationen mit leeren Händen nach Hause fahren muss, wenn sich andere Vermittler gar nicht erst einschalten, dann zeigt sich, dass Wladimir Putin gegenwärtig diplomatische Lösungen verweigert.

Das darf aber nicht bedeuten, dass Diplomatie nicht bereit sein muss, sollte sich die Situation ändern. Sie muss jetzt bereits den Blick darauf richten, dass wir von einer Situation der Konfrontation zu einer Situation der geordneten Konfrontation übergehen. Stichworte: Abrüstungsverhandlungen, Maßnahmen gegenseitiger Transparenz, Inspektionen und anderes mehr.

STANDARD: Die US-Geheimdienstkoordinatorin Avril Haines rechnet mit einem "Zermürbungskrieg" in der Ukraine, in dem Putin darauf baut, dass die Entschlossenheit der USA und der EU nachlässt. Sie auch?

Von Fritsch: Dass der Westen dauerhaft zusammenstehen wird, davon bin ich überzeugt, denn das haben wir nach 2014 ja auch nicht anders gemacht. Sanktionen mit dem Ziel, den Frieden wiederherzustellen, haben natürlich ihren Preis.

STANDARD: Putin dürfte in Russland selbst auch immer stärker unter Druck geraten. Wie lange lässt sich Russland das noch gefallen?

Von Fritsch: Tatsächlich ist die Situation im Lande enorm schwierig geworden. Der Westen hat mit seiner Reaktion an Putins Achillesferse angesetzt. Er ist auf hohe Einnahmen angewiesen, um sich die Zustimmung der Bevölkerung zu erkaufen. Wenn das Geld ausgeht, stellt sich die alte sowjetische Frage: Siegt der Fernseher, oder siegt der Kühlschrank? Aber die staatliche Propaganda schafft es derzeit noch, die Menschen bei der Stange zu halten. Ich halte es deswegen für wenig wahrscheinlich, dass die Stimmung in naher Zukunft kippt. Eine Alternative wäre die Möglichkeit, dass es innerhalb der Führung Widerspruch gibt, dass zum Beispiel die Militärführung irgendwann an einen Punkt kommt, an dem sie die Geschehnisse nicht mehr hinnimmt.

STANDARD: Würde eine Militärherrschaft eine Neuausrichtung der russischen Außenpolitik bedeuten?

Von Fritsch: Wir sollten davon ausgehen, dass eine Änderung an der Spitze des russischen Staates nicht unbedingt eine Änderung der Natur der Herrschaft oder eine Neuausrichtung der russischen Außenpolitik bedeutet. Womit man rechnen könnte, wäre, dass eine neue Führung diesen schrecklichen Krieg gegen die Ukraine beendet und ihn als Fehler der vergangenen Führung darstellt. Aber diese latente Bereitschaft zur Aggressivität und Konfrontation ist etwas, womit man wohl auch in Zukunft würde rechnen müssen.

STANDARD: Sie beschreiben in Ihrem Buch den Typus des Sowjetmenschen, der aktuell wieder Auftrieb erhält. Was genau meinen Sie damit?

Von Fritsch: Die russische Soziologie hat in sehr interessanten Studien festgestellt, dass der Typus des sogenannten Sowjetmenschen sich quasi fortsetzt. Damit sind Menschen gemeint, die geprägt sind von der Knochenmühle der nicht aufgearbeiteten Geschichte. Sie wissen, wie sehr die staatlichen Repressionen sie jederzeit unterdrücken können. Sie leben in der Angst vor der Führung und nutzen die Lüge als Mittel der Verteidigung.

STANDARD: Immer mehr gut ausgebildete Menschen verlassen Russland.

Von Fritsch: Russland erlebt in der Tat den größten Abfluss an Intelligenz, an schöpferischem Potenzial, an unternehmerisch denkenden Menschen seit der Oktoberrevolution. Hunderttausende haben das Land verlassen. Und das sind nicht nur die "frechen" Journalisten und die kritischen Künstler, es sind auch die Experten, zum Beispiel aus der IT. Der Staat hat gerade die Wehrpflicht für IT-Experten ausgesetzt, aus Sorge, dass diese wichtigen Fachkräfte das Land komplett verlassen. Das ist nur eine der vielen dramatischen Schädigungen, die Putin seinem Land zufügt. Ich selbst bin und bleibe Russland in tiefer Sympathie verbunden. Und es zerreißt mir das Herz, wie Putin sein eigenes Land ins Verderben führt.

STANDARD: Was kommt in den nächsten Jahren auf die Welt und die internationale Ordnung zu?

Von Fritsch: Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine wird nach meinem Eindruck nicht zu einer fundamentalen Änderung der internationalen Ordnung führen. Der Westen ist in großer Einigkeit zusammengeführt. China wird seine dynamische Entwicklung fortsetzen und möglicherweise auch Nutznießer der aktuellen Entwicklung sein. Andere Länder müssen versuchen, sich dazwischen zu positionieren. Der globale Süden, der von Putins Krieg massiv beschädigt wird, wird weiter versuchen, den Anschluss zu finden. Das sind Entwicklungen und Dynamiken, die bereits vor Ausbruch dieses Kriegs angelegt waren. Der einzige Unterschied zu der Zeit vor dem 24. Februar ist, dass ein Mann beschlossen hat, sein Land in die politische wie wirtschaftliche Isolation zu begeben, und dafür den ökonomischen und sozialen Abstieg und die Konfrontation mit seiner Umwelt in Kauf zu nehmen.

STANDARD: Was ist das Szenario, das Sie mittelfristig in dieser Konfrontation für wahrscheinlich halten?

Von Fritsch: Schwierig. Es kann einen ukrainischen Sieg geben, aber auch einen russischen. Wladimir Putin darf diesen Krieg nicht verlieren, weil er auch um seine eigene Macht kämpft. Er ist deshalb – und das ist die dritte Option – bereit, den Krieg weiter zu eskalieren. Wir erleben das bereits jetzt: Die konventionelle Kriegsführung wird verstärkt, es kommt vermehrt zu Artillerieeinsatz, die Luftwaffe führt einen unbarmherzigen, gnadenlosen Krieg gegen die Zivilbevölkerung – und er setzt offensichtlich in zynischer Weise die Blockade ukrainischer Getreideexporte als Mittel ein, um die Situation in Nahost und Afrika zu destabilisieren. Damit zielt er darauf, Druck auf uns aufzubauen, auch über mögliche neue Migrationsbewegungen.

Die vierte Option ist, dass es zu einem Patt aus einer Ermüdungssituation herauskommt und ein Waffenstillstand geschlossen wird. In dieser Situation wird es entscheidend darauf ankommen, wer welche Hebel in der Hand hat. Kann Russland an seinem Ziel festhalten, dass es die Zukunft der Ukraine bestimmt, oder wird die Ukraine stark genug sein, ihre staatliche Souveränität zu bewahren? Wir sind in einer Situation, in der es wenig Anlass gibt für Optimismus. Wir dürfen aber zugleich nicht die Hoffnung verlieren, dass wir für die heutigen Probleme morgen Lösung finden, die uns jetzt noch unvorstellbar erscheinen. Der Blick in die Geschichte lehrt uns, dass es immer auch unerwartete Wendungen zum Guten geben kann. Darauf sollten wir hinarbeiten. Und dafür muss sich auch Diplomatie einsetzen. (Manuela Honsig-Erlenburg, 20.5.2022)