Das Kernkraftwerk Cattenom besteht aus vier Druckwasserreaktoren, es ist das drittgrößte AKW in Frankreich.

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Frankreich ist stolz auf den zweitgrößten AKW-Bestand nach den USA. Bloß funktioniert er nur noch halbwegs. 29 von 56 Reaktoren stehen derzeit still, wie der Stromkonzern Electricité de France (EDF) auf Anfrage bestätigt.

Für 61,4 Gigawatt konzipiert, liefern die Kernkraftwerke insgesamt weniger als 30 Gigawatt (GW). So wenig Strom haben französische Meiler noch nie produziert, seitdem sie Ende des 20. Jahrhunderts ihren heutigen Bestand erreicht hatten. Zum Vergleich: Österreich benötigt rund acht GW pro Jahr.

Der Ausfall von AKWs und die Mitteilung von EDF, dass im Winter ebenfalls weniger AKWs als üblich am Netz sein werden, haben zu einem zusätzlichen Preisauftrieb geführt. Die Notierungen für die 2023 gehandelten Strommengen (Forward) sind in Richtung 500 Euro je Megawattstunde (MWh) marschiert – ein Allzeithoch. Auch die Forward-Preise für das Marktgebiet, zu dem unter anderem Österreich gehört, sind kräftig nach oben gegangen – plus 16 Prozent auf 232 Euro je MWh. Das ist hoch, aber halb so hoch wie in Frankreich.

Die Gründe für den AKW-Ausfall in Frankreich sind vielfältig – und vielsagend. Viele der gut 40-jährigen Reaktoren müssen überholt werden. Seit dem Ende der Corona-Pause häufen sich die Wartungsarbeiten. Damit die Meiler weitere zehn Jahre Strom liefern können, müssen sie jeweils ein halbes Jahr vom Netz genommen werden.

Außerdem sind vielerorts Wasserleitungen des Sicherheitskreislaufs von Rost befallen. Auch wenn eine akute Gefährdung der Brennstäbe ausgeschlossen wird, stehen die Ingenieure vor einem Rätsel, zumal der Rostbefall vorrangig jüngere Kraftwerke betrifft.

Klar sind dagegen die Folgen. Der historische Stromexporteur EDF verkauft fast keine Elektrizität mehr in die Nachbarländer. In Frankreich steigen die Preise, die durch die Verknappung von russischem Gas ohnehin unter massivem Druck stehen. Die Regierung in Paris hat EDF angewiesen, die Strompreise zu deckeln. Das hilft den Konsumenten, verdeckt aber das Strukturproblem dahinter: Die Versorgungssicherheit durch französischen Atomstrom ist nicht mehr gewährleistet.

Nicht in diesem Sommer und Herbst, aber bereits ab dem nächsten Winter könnte der halbierte AKW-Bestand außerstande sein, Frankreich mit genug Strom zu versorgen. Dabei sollten die Reaktoren möglichst im Vollbetrieb laufen, um die Wiederinbetriebnahme von Kohlekraftwerken zu verhindern.

Sicherheitsbedenken

Nicht nur Grüne befürchten, dass die EDF-Strategen Abstriche bei der technischen Sicherheit vornehmen könnten, um die Versorgung der Bevölkerung und der Industrie zu gewährleisten. "Das ist genau die Situation, die wir befürchtet haben", meint Bernard Doroszczuk von der französischen Atomsicherheitsbehörde ASN. "Der Druck auf das Stromnetz könnte die Sicherheit der Reaktoren in Konkurrenz zur Stromversorgung bringen."

EDF bestreitet jede Absicht, die Wartungsarbeiten zu verkürzen oder aufzuschieben. Alle von Rost befallenen Reaktoren seien abgeschaltet. Laut Ingenieuren könnte das Unterbrechungen von "mehreren Jahren" bewirken.

Der Massenausfall von Meilern hat auch politische Folgen. Präsident Emmanuel Macron hatte Anfang dieses Jahres den Bau von 14 neuen Atomkraftwerken angekündigt. Diesen Entscheid verkaufte er als Beitrag zur Klimapolitik – und seit dem Ukraine-Krieg auch zur Unabhängigkeit von russischem Gas.

Fragen über Fragen

Die Reaktorpannen stellen nun aber den französischen Atomkurs insgesamt infrage. Zugleich wird der Pionierreaktor der neuen EPR-Generation in Flamanville (Normandie) immer mehr zu einem technischen und finanziellen Fiasko.

Die 14 neuen EPR-2-Reaktoren können frühestens 2035 ans Netz. Das wäre reichlich spät: Fünf Jahre zuvor, 2030, will sich die EU bereits von russischem Gas und Öl losgeeist haben, wie die Kommission am Mittwoch angekündigt hat. Heute ist Frankreichs energetische Unabhängigkeit von Moskau dank der Kernkraft relativ. Der russische Nuklearkonzern Rosatom liefert Frankreich angereichertes Uran und wichtige Bestandteile für Reaktoren.

Wahlkampfthema

Die nukleare Pannenserie wird nun auch zu einem Argument in der laufenden Kampagne für die französischen Parlamentswahlen. Wenn die linke Volksunion (Nupes) von Jean-Luc Mélenchon im Juni siegt, will er nach dem bereits geschlossenen Oldtimer-AKW Fessenheim möglichst viele weitere Reaktoren abschalten. Und den Bau weiterer EPRs stoppen. Macron hätte keine große Handhabe dagegen.

Sollte der Präsident hingegen die Parlamentswahl wie erwartet gewinnen und damit eine ihm genehme Regierung erhalten, will er voll auf den französischen AKW-Bestand setzen. Zumindest auf den Teil davon, der noch funktioniert.

Für Johannes Mayer, Leiter der Abteilung Volkswirtschaft in der Regulierungsbehörde E-Control, sind es zwei Dinge, die den Strompreis beeinflussen: die Ankündigung der Nichtverfügbarkeit bei den AKWs und die Unsicherheit, wie es mit dem Gas als wichtigem Einsatzstoff bei der Produktion von Strom (siehe Wissen unten) weitergeht. Die Großhandelspreise seien am Donnerstag mit 260 Euro je MWh zwar auf hohem Niveau. Das sei aber schon seit Wochen so, sagte Mayer dem STANDARD. (Stefan Brändle aus Paris, Günther Strobl, 20.5.2022)