Analyse mit Schiffbruch. Das Foto stammt aus Michael Ehns Privatsammlung, der Fotograf ist unbekannt.

Foto: Privatsammlung Ehn

Auf dem Gebiet der Ultralangstrecke kennen sich ruf & ehn aus. Seit mehr als dreißig Jahren erfreuen die beiden die Leserinnen und Leser dieser Zeitung mit einer Schachkolumne, die zu den international renommiertesten ihrer Gattung gehört. In der Gründungsphase des STANDARD räumte Herausgeber Oscar Bronner ruf & ehn eine Art dreiwöchiger Probezeit ein, die sich dann zu einer drei Jahrzehnte umfassenden Publikationsdauer ausgeweitet hat. Das lässt den Schluss zu, dass ruf & ehn die Probe bestanden haben.

Gemessen am Umfang der Kontingenzen, die das Leben parat hält, ist die Kolumne von ruf & ehn nicht nur ein erstaunliches Beispiel für die Existenz auch von Kontinuität, sie besticht zudem verlässlich mit thematischer Breite, gedanklicher Tiefe und Eleganz der Darstellung.

Wie schafft man es, mehr als dreißig Jahre hindurch ununterbrochen eine Kolumne zu schreiben? Haben ruf (alias Ernst Strouhal, Professor für Kulturwissenschaften an der Angewandten in Wien) & ehn (alias Michael Ehn, Schachhistoriker, Autor und Sammler von Schachbüchern) noch nie Urlaub gemacht? "Doch", meint Ehn zum STANDARD, "dann gab es eben zu Wochenbeginn ein Gespräch zwischen uns beiden, bei dem wir den Inhalt der Seite konzipiert haben, und der, der nicht auf Urlaub fuhr, hat die Produktion bestritten. Vorproduziert haben wir aber niemals."

Verrücktheit und Melancholie

Soeben ist ein Auswahlband aus ihren Kolumnen erschienen, der mit unzähligen Stellungsdiagrammen, Fotografien, Grafiken, Anekdoten, Geschichten und stets im Dreierpack präsentierten Problemstellungen ("Ganz leicht", "Ganz schön", "Ganz schön schwer") opulent und prächtig ausgefallen ist: eine Bonanza für alle, die sich mit Schach beschäftigen.

Nachteil besitzt das Buch nur einen: Auf 600 Seiten kann es lediglich einen Mini-Ausschnitt des ruf-&-ehn’schen Gesamtwerks dokumentieren (komplett wären zehn Bände im 600-Seiten-Umfang vonnöten).

Der enigmatische Titel S/Madness (gesprochen: "Smädness") ist Arno Schmidts legendärem Mega-Roman Zettel’s Traum entnommen. Der Ausdruck hat mit seinen simultanen Bezügen auf Verrücktheit und Melancholie das Herz der Autoren erobert, weil er für sie auch Schach idealtypisch charakterisiert: "Es vermittelt zugleich Überschwang und Traurigkeit, es kann eine gefährliche Leidenschaft sein, aber auch reine Freude", meint Ehn. "Manchmal bietet es Trost, manchmal wirkt es wie eine Droge, von der man nur schwer loskommt."

Bewusster Zugang

Der Titel S/Madness signalisiert einen intellektuellen, ästhetisch sehr bewussten Zugang zum Thema, der nichts mit abgegriffenen Stereotypen zu tun haben will: "Schach fasziniert, weil es wie das Leben selbst ist." Strouhal dringt dagegen auf eine Trennung von Spiel und Leben: "Jede Unterhaltung, jedes Gespräch zwischen Freunden verläuft ohne festes Regelwerk und ist unendlich viel komplexer als die schwierigste Schachpartie, so kompliziert sich diese auch manchmal darstellen mag. Ein Leben als Schachspiel verstanden, wäre ein unendlich reduziertes, ein schreckliches Leben."

Freilich hat Schach aber so viele Qualitäten und Schönheiten, dass es die Spieler seit mehr als 1500 Jahren in den Bann zieht und an seinem Fortbestand auch in einer Ära exponentiell wachsender digitaler Lustbarkeiten nicht zu zweifeln ist.

Natürlich hat sich Schach im Laufe der Zeit verändert, aber, so Ehn, "durch alle Versuche, den Rahmen weiter zu ziehen, die Figuren oder die 64 Felder zu vermehren oder es gar dreidimensional zu machen, wurde das Spiel nicht interessanter oder spannender, sondern im Gegenteil banaler". Offenbar hat das Spiel eine ideale Form von Komplexität erreicht, die dem menschlichen Geist angemessen ist.

Wien als Schachmetropole

Das Konzept von S/Madness stellt auf eine mündige Leserschaft ab, die ihre eigenen Pfade durch die Fülle von biografischen, menschlichen, kulturhistorischen, psychologischen, philosophischen und politischen Geschichten schlagen wollen, die das Schachspiel in unwahrscheinlichem Reichtum umranken: Querlesen und hin- und herblättern ist ausdrücklich erwünscht und werde durch ein Personenregister bzw. Wegvorschläge für thematische Interessen unterstützt.

Neben vielen Referenzen auf Wien als Schachmetropole – eine Qualität, die die Stadt wie so vieles andere unter den Nazis eingebüßt hat – lag den Autoren ein anderes Ziel am Herzen, so Strouhal: "Die enorme Rolle der Frauen im Schach zu würdigen, etwas, was oft untergegangen ist, weil es eine Öffentlichkeit für schachspielende Frauen lange nicht gab."

Pagina 363 des reich bebilderten Bandes zeigt ein Gruppenbild ohne Dame: nur männliche Schachspieler, die sich an den Brettern köpferauchend beratschlagen. Den eigentlichen Star dieser Simultanpartie 2010 in der Kunsthalle Wien präsentiert die nächste Seite – die 2019 früh verstorbene, von ruf & ehn über viele Jahre bewunderte Großmeisterin Eva Moser. Es war ein ungleicher Kampf: Von 24 Gegnern besiegte Moser 22, lediglich zweien gelang ein Remis. (Christoph Winder, ALBUM, 21.5.2022)