Familie als Brennpunkt von Aufstiegskämpfen: Banks Repeta und Anthony Hopkins in James Grays "Armageddon Time".

Foto: Filmfestival Cannes

Manche Augenblicke im Kino haben bereits den Anschein einer Erinnerung, wenn sie von purer Gegenwärtigkeit erfüllt sind. Der zwölfjährige Paul Grass (Banks Repeta) spult den Countdown herunter, schließlich steigt seine kleine, selbst gebastelte Rakete im Park stolz wie eine echte in den Himmel. Der Bub weiß an dieser Stelle des Films noch nicht, dass ihm nicht mehr viel Zeit mit seinem Großvater (Anthony Hopkins) bleibt. Nachdrücklich gibt dieser seinem Enkel noch einen Rat auf den Weg. Egal, was komme, man müsse im Leben Zivilcourage beweisen. Es gelte, ein "mensch" zu bleiben.

Am dritten Tag von Cannes hat der US-Amerikaner James Gray mit Armageddon Time einen persönlichen, rundum gelungenen Film im Wettbewerb präsentiert. Er führt in den herrlich überschäumenden Kosmos einer jüdischen Familie aus Queens, New York, Anfang der 1980er – kurz bevor Reagan, dieser "Schmock", die Wahlen gewinnt. Grays Perspektive reicht über ein abgezirkeltes Coming-of-Age-Drama lässig hinaus: Ähnlich wie in Ben Lerners gefeiertem Roman Die Topeka Schule wird hier in der Vergangenheit der Keim für heutige Verhärtungen freigeschält.

Sereberennikow verteidigt Abramowitsch

Mit einem famosen Cast – Jeremy Strong, der Star aus Succession spielt Pauls überforderten Vater – erzählt Gray davon, wie die Familie mit ukrainischen Wurzeln sich in einem Einwandererland gegen die Privilegien der Weißen, aber auch benachteiligte Klassen zu behaupten versteht. Sogar die Trump-Familie verbreitet hier in einer elitären Kaderschmiede schon ihr Gift der Spaltung. Die Ungerechtigkeiten des Landes bekommt aber vor allem Pauls bester Freund, der schwarzen Bub Johnny (Jaylin Webb), zu spüren, der in der Schule mehr als andere gegängelt wird und über keine Fürsprecher verfügt.

Armageddon Time ist nicht der einzige Film an der Croisette, der über den Umweg der Geschichte Maß an ideologischen Fronten nimmt. Der russische Regisseur Kirill Sereberennikow ist vor wenigen Wochen nach Europa emigriert, seinen aktuellen Film Tchaikovsky’s Wife hat er allerdings noch aus der Kasse des Oligarchen Roman Abramowitsch kofinanziert – und diesen auf dem Festival nicht nur verteidigt, sondern auch für eine Aufhebung der Sanktionen plädiert.

Dass sein Film in Cannes laufen kann, verdankt sich der schwammigen Linie von Festivaldirektor Thierry Fremaux, der nur die offizielle russische Delegation ausgeladen hatte. Er steht mehr für Maximalismus statt für klare Positionen: Auch der posthum fertiggestellte Dokumentarfilm Mariupulis 2 des von russischen Soldaten getöteten Mantas Kvedaravicius läuft dieser Tage.

Sturheit und Starrsinn

Tchaikovsky’s Wife ist vor allem aufgrund seines Fokus auf das in Russland besonders aufgeladene Thema Homosexualität bemerkenswert. Um Gerüchten ein Ende zu setzen, heiratet der aufstrebende Komponist Antonina Miliukova (Alyona Mikhailova), die nichts von den Vorlieben ihres Mannes ahnt. Je offener er sich von ihr abwendet, desto mehr wird er von ihr begehrt.

Die formale Grandeur von Serebrennikows Inszenierung vermag jedoch nicht von der seltsamen Parteilichkeit des Films abzulenken, die schon beinahe misogyne Züge trägt. In ihrer fanatischen Beharrlichkeit wirkt die bigotte Miliukova wie der Inbegriff des Starrsinns der Tradition, mit der sie sich moralisch überlegen glaubt.

Am Anfang von Marie Kreutzers Corsage hält Kaiserin Elisabeth von Österreich-Ungarn im Bad unter Wasser den Atem an – eine treffende, ja leitmotivische Einstellung für einen Film, der für den Überdruss seiner Heldin weit mehr Großzügigkeit aufbringt. Klug und sensibel studiert die heimische Regisseurin den Ennui und die Unrast einer Monarchin, die sich mit der Passivität ihrer Rolle nicht mehr abfinden will. Am Freitag feierte der Film in der Sektion "Un Certain Regard" eine mit leidenschaftlichem Applaus und Standing Ovations honorierte Premiere.

Kitsch und Realismus

Kreutzer antwortet auf den populärkulturell so wirksamen "Sissi"-Kitsch mit Realismus, nicht ohne sich Anachronismen zu erlauben. In der Luxemburgerin Vicky Krieps hat sie eine Idealbesetzung. Deren Präsenz versieht selbst die Niederungen des höfischen Alltags mit untergründiger Spannung. Sie schillert in Gemütszuständen, lässt sich auf keinen Punkt bringen. Sie ist rebellisch und melancholisch, kraftlos und renitent.

Aus ihrem Hin- und Zurück, dem letzthin Uferlosen ihrer Ausbrüche nach England oder in das Schloss von Ludwig II., orientiert sich auch die Erzählform. Sich selbst am nächsten ist diese Sisi in Filmaufnahmen, dabei war das Medium zu ihrer Zeit noch gar nicht erfunden – eine schöne Pointe. Kreutzers Film hätte auch im Wettbewerb gute Figur gemacht. (Dominik Kamalzadeh aus Cannes, 21.5.2022)