Wien "Früher habe ich mich geniert. Was, wenn mich wer erkennt? Aber jetzt? Ich bin eh nur eine von tausenden Wienerinnen, die hier einkauft." Forschen Blickes inspiziert eine Mittfünfzigerin die Regale des Sozialmarkts Donaustadt. Alles, was sie brauche, finde sie auf Flohmärkten und in Geschäften wie diesen. Shoppingtouren bei Hofer, Lidl oder H&M könne sie sich nicht leisten. Schon gar nicht, solange sie keine Gewissheit über ihre Gasabrechnung habe. Mit ein wenig Glück habe sie hier für ein paar Euro noch immer was Vernünftiges gefunden.

15 Prozent der Österreicher sind armutsgefährdet. Die Möglichkeiten, Geld einzusparen, sind begrenzt.
Foto: Regine Hendrich

"200 Euro. So viel bleiben uns im Monat fürs Leben", rechnet eine ältere Dame vor, während sie ihren Mann im Rollstuhl durch den Markt schiebt. Seit die Kosten fürs Heizen stiegen, müssten sie noch mehr an allen Ecken und Enden sparen. Auf Urlaub und aus Wien raus seien sie seit gut zwölf Jahren nicht mehr gekommen. Den kleinen Luxus gönne sie ihrem Mann hier, sagt sie und deutet auf Kartons mit Schokolade.

Wenig Spielraum

Schuld an der Misere sei der Ukraine-Krieg, meint eine junge Frau anklagend. Bis dahin habe sich ihre Familie finanziell über Wasser gehalten. Aber jetzt werde es eng. Sie habe fünf Kinder im Alter zwischen zwei und 13 Jahren. Ihr Mann mache eine AMS-Schulung. Viel Spielraum fürs Einkaufen bleibe da nicht.

Alexander Schiel zählte in seinem Sozialmarkt in der Wiener UIlreichgasse bis Jänner täglich rund 200 Kunden. Seit die hohe Inflation die Preise für Energie und Lebensmittel nach oben treibe, seien es sicher 50 mehr. Früher deckten sich hier Pensionisten und die Bezieher von Notstandshilfe mit dem Allernötigsten ein, erzählt er. Seit Beginn der Pandemie ziehe sich der Kreis seiner Kunden quer durch viele Gesellschaftsschichten.

Meinl ist Geschichte

An die Gourmetkette Meinl, die in dem Verkaufslokal in der Vergangenheit auf 600 Quadratmetern residierte, erinnert nichts mehr. Zwei Schütten, eine voll mit frischer Mayonnaise, die andere mit alten Büchern, laden Kunden ein, kostenlos zuzugreifen.

In Reih und Glied geschlichtet finden sich Packerlsuppen und Nudeln neben Haarshampoos, Babynahrung und Gewürzen. Das Gros ist zum halben Preis zu haben und Tage bis Wochen haltbar. Bunt zusammengewürfelte Bekleidung gibt es um zwei Euro.

Knapp 15 Prozent der österreichischen Bevölkerung sind armutsgefährdet. Ihr monatliches Einkommen liegt unter 1371 Euro. Schiel erwartet sich, dass die Armutskonferenz, ein Zusammenschluss aus sozialen Organisationen, die Schwelle der Armutsgefährdung hebt. Denn auch 1500 Euro reichten mittlerweile kaum aus, um über die Runden zu kommen.

Verkauft werden Lebensmittel mit kürzerer Haltbarkeit, aus überschüssiger Produktion, aus ausgelaufenen Aktionen oder mit optischen Mängeln, etwa weil Logo oder Verpackung geändert wurden.
Foto: Christian Fischer

Schiel, weißes Poloshirt, blonder Kurzhaarschnitt, zündet sich in einem Kammerl inmitten des Sozialmarktes eine Zigarette an. Zu seiner Rechten türmen sich Gurkengläser mit Centmünzen, zu seiner Linken leere Lebensmittelverpackungen. Er sei Buchhalter und Einkäufer in einer Person und nach zwei Jahren im Dauereinsatz manchmal am Limit, sagt er entschuldigend.

Der einstige Betriebsrat der Wiener Börse führt drei Sozialmärkte. In ganz Wien entstanden in den vergangenen 13 Jahren 27 Standorte, österreichweit 86. Sie werden von Vereinen, sozialen Verbänden und Ablegern von Non-Profit-Organisationen ebenso betrieben wie von Gemeinden und privaten Initiativen.

Harter Wettlauf

Was sie vereint, ist der Wille, die Verschwendung von Lebensmitteln zu reduzieren und einkommensschwache Haushalten mit günstigen Produkten des täglichen Bedarfs zu versorgen. Was sie spaltet, ist der Kampf um ausreichend Ware.

Die Branche ist auf Spenden aus Industrie und Handel angewiesen. Beide haben gelernt, genauer zu kalkulieren und weniger Überschuss zu produzieren. Projekte wie Too good to go und die Rette-mich-Box bewahren Essen vor dem Müll. Sie reduzieren jedoch den Pool an Lebensmitteln, aus dem sich Sozialmärkte bedienen. "Der Wettlauf um Ware ist härter geworden", sagt Schiel.

Schwarze Schafe

Sozialmärkte kaufen zusehends in der Industrie zu, was in der Community für böses Blut sorgt, verzerrt es doch den Wettbewerb. Als No-Go gilt es, Zutrittsbeschränkungen, die sich am Einkommen der Kunden bemessen, zu untergraben. Etwaige Finanzierungen durch Parteispenden werden ebenso mit Argusaugen beobachtet. Von Trittbrettfahrern und schwarzen Schafen ist vielerorts die Rede – und man bedroht einander regelmäßig mit Anzeigen.

Dass soziales Engagement nicht reicht, um den "Laden zu schupfen", erfahren vor allem kleinere Betreiber. Quer durch Österreich zeichnet sich, auch angesichts der steigenden Fixkosten für Miete und Transport, eine Marktbereinigung ab. Überleben kann nur, wessen Lebensmittelquellen nicht versiegen. Nicht unterschätzt werden darf der Aufwand, das enge Netz aus ehrenamtlichen Mitarbeitern zu koordinieren.

Für Christina Holweg und Eva Lienbacher, die an der Wirtschaftsuni Wien bzw. der Fachhochschule Salzburg forschen und durch ihre Studien die Expansion der Sozialmärkte in Europa voranbrachten, sind diese "ein effizientes Instrument, um wertvolle Ressourcen mit nur wenig Aufwand zu geringen Kosten rasch an Konsumenten zu bringen".

Raus aus dem Armutseck

Produzenten und Industrie hinterfragten jedoch vermehrt soziale Modelle, mit denen sie kooperierten. Wichtig sei es zudem, die Branche aus ihrer Armutsecke zu holen und positiver zu besetzen. Schließlich profitierten alle Teilnehmer der Wertschöpfungskette davon.

International werde zum einen verstärkt mit Sozialämtern zusammengearbeitet, erzählen Lienbacher und Holweg. Zum anderen suchten viele Märkte über Bauern selbst den Weg in die Produktion. Professionell arbeite vor allem die Schweiz: Dort nahmen sich pensionierte Handelsmanager der sozialen Geschäfte an.

Vorbei sind die Zeiten, in denen die Politik den Gründern von Sozialmärkten Prügel in den Weg legten. "Linz brauche keinen Sozialmarkt, hieß es vor 23 Jahren", erinnert sich Manfred Kiesenhofer, der mit seinem Soma-Markt in Oberösterreich zu den Pionieren der Branche zählt. Zu groß war die Angst, dessen bloße Existenz würde als Versagen der Sozialpolitik gewertet. Heute kaufen täglich 300 bis 400 Kunden bei ihm in Linz ein, resümiert Kiesenhofer. "Frei verfügbares Geld ist knapp, und die einzige Chance, etwas einzusparen, bieten Lebensmittel."

Das Wiener Hilfswerk erlebt in seinen Soma-Filialen ebenso wachsenden Andrang an Kunden wie der Samariterbund, die Caritas, die Vinzi-Märkte und der Verein Start up mit seinen Foodpoint-Geschäften.

Keine Almosen

In Schiels Sozialmarkt in Wien-Donaustadt wuchtet ein rüstiger Mitarbeiter derweil Schachteln an feiner Confiserie in die Regale. Ob Süßes abseits der Grundnahrungsmittel wirklich nötig sei, bekomme er oft zu hören. "Aber arm zu sein bedeutet ja nicht, auch armselig leben zu müssen. Gutes und Schönes gehören zum Leben dazu." Er selbst sei in Altersteilzeit. Was er der Gesellschaft geben könne, sei einmal die Woche Zeit, um den Markt am Laufen zu halten. "Es soll hier ordentlich aussehen."

Was ihn wütend mache, sei, was den Leuten als private Spenden mitunter alles zugemutet werde. Gebrauchte Zahnbürsten würden ebenso abgegeben wie schmutzige Seifenreste und verschlissene Kleider – "nach dem Motto: Die Leut sollen froh sein, überhaupt was zu bekommen."

Sozialmärkte seien keine Lösung für alles, sagen Holweg und Lienbacher. Ihre Stärke aber sei, dass Menschen selbst wählen, was sie einkaufen wollen, selbst die Einkaufswägen schieben. "Sie wollen als Kunde gesehen werden, nicht als Almosenempfänger." (Verena Kainrath, 22.5.2022)