Familie Litwinenko ist nach Bachmut geflohen: "Hier wird auch geschossen, aber immerhin gibt es Strom, Gas, Wasser."

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Wie ausgestorben wirkt das 1.000-Seelen-Dorf Pokrowske im Oblast Donezk, eingebettet in Wiesen und Felder, deren nährstoffreiche Schwarzerde weltweit begehrt ist. Doch über die Straße vor dem zweistöckigen Familienhaus, in dem Familie Litwinenko wohnt, rollen Mitte Mai fast ausschließlich ukrainische Panzer und drücken die Spuren, die ihre Ketten auf dem Weg in Richtung der donnernden Artillerie hinterlassen, immer tiefer in den Asphalt. "Als Schüsse von automatischen Waffen fielen, sind wir in den Keller gerannt", erzählt Ihor Litwinenko (32) über den Vorabend. "Wir haben sofort verstanden, dass unsere Armee versucht hat, eine russische Drohne abzuschießen, die Zielobjekte ausfindig macht." Kurz darauf brachten mehrere Explosionen das ganze Haus zum Beben.

Aus Angst vor der russischen Überwachung aus der Luft bittet Litwinenko darum, unter das Vordach der Veranda zu treten, von wo aus er und seine Frau Anastasia (25) ungläubig auf das Ausmaß der Zerstörung starren: Im ordentlich angelegten Gemüsebeet liegen die Glasscherben, die aus den Fenstern gebrochen sind, das Spielzeug der fünfjährigen Tochter, Holz und Metall aus dem Dachstuhl und der Eingangstür. Mit eingezogenem Kopf klettert er die abgenutzten Betontreppen nach unten in den nach kaltem Stein riechenden Keller, in dem notdürftig zwei Matratzen, ein Stromgenerator, Wasser- und Lebensmittelrationen zusammengetragen wurden. An den Wänden aus roten Ziegelsteinen hängen dicke Spinnennetze. Hier sitzt die fünfjährige Tochter Regina wie erstarrt, während sie von der Großmutter im Arm gehalten wird. Die Puppen bleiben unberührt vor ihr liegen.

Die Großmutter der Familie Litwinenko mit ihrer fünfjährigen Enkelin im Keller des Hauses. Vor wenigen Tagen hat die Familie ihr Zuhause verlassen.
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Kein Ende in Sicht

Während die meisten Dorfbewohner Pokrowske verlassen haben, hielt die Angst vor der Arbeits- und Obdachlosigkeit Familie Litwinenko zurück. "Wir wissen nicht, ob es gefährlicher ist zu bleiben oder zu fliehen." Landwirt Ihor erzählt von seinen beiden Traktoren, die im Nachbardorf stehen. Von seinen 120 Hektar Land, die er seit Jahren mit Weizen bestellt. Bis zum Schluss wollte er ausharren und seinen Besitz in Sicherheit wissen. "Ich weiß nicht, womit wir das verdient haben", sagt Anastasia. "Es nimmt einfach kein Ende."

Die Frontlinie befindet sich keine 15 Kilometer von Pokrowske entfernt, und die russischen Streitkräfte verstärken zunehmend ihre Bemühungen, vorzurücken. Doch es wird noch zwei weitere Tage dauern, bis die Familie aufgrund des ausfallenden Stroms und Wassers in die 20 Fahrminuten entfernt gelegene Stadt Bachmut fliehen wird. "Hier wird auch geschossen, aber immerhin gibt es Strom, Gas, Wasser", schreibt Anastasia einige Tage später über Whatsapp.

Keine Lebensmittel, kein Benzin

Die Supermärkte in Bachmut, in deren Regalen oft nur noch eine letzte Orange liegt, spielen schon seit Monaten keine Musik mehr, damit die Kundinnen und Kunden die warnenden Sirenen oder die Explosionen gut hören können. Vor den Tankstellen bilden sich täglich lange Schlangen, weil Treibstoff knapp ist. Und vor dem hiesigen Krankenhaus, das schon längst für die vielen verwundeten Soldaten herhalten muss, bieten sich täglich Szenen, die westliche Augen in den meisten Fällen nur aus Filmen kennen: Durch das Hoftor schnellt ein Land Rover in olivgrüner Farbe und kommt abrupt zum Stehen. Der Fahrer springt aus dem Wagen und öffnet hastig den Kofferraum, in dem zwei Soldaten liegen. Einer der beiden Verwundeten, das Gesicht blassweiß, der Verband um den Bauch blutig, wird in das Gebäude gehievt. Der zweite humpelt, aber er schafft den Weg in die Notaufnahme allein.

Ihor und Anastasia Litwinenko in ihrem Haus in Pokrowske im Oblast Donezk. Lange hielt die Angst vor Arbeits- und Obdachlosigkeit die Familie von der Flucht ab.
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Während immer mehr Ukrainerinnen und Ukrainer in die Hauptstadt Kiew zurückkehren und die Stadtregierung in der zweitgrößten Stadt Charkiw veranlasst hat, dass die U-Bahn-Stationen wieder in Betrieb genommen werden und die Tausenden, die dort seit beinahe drei Monaten ausharren, wieder in ihre Unterkünfte zurückkehren sollen, geht der Krieg im Donbass weiter. "Seit acht Jahren", so beginnen viele Bewohner in dieser Region ihre Sätze.

Heißes Wasser gab es in vielen Häusern in der Ortschaft Karliwka, keine 20 Kilometer von der Stadt Donezk entfernt, schon seit Wochen nicht mehr. Vor dem Schawarma-Imbiss stehen, essen und rauchen die Soldaten. Abgeschottet vom Rest des Landes, ohne öffentliche Verkehrsanbindungen und hinter dutzenden militärischen Checkpoints der ukrainischen Armee und der territorialen Verteidigungskräfte, leben Pensionistinnen wie Olga (70). Die unbefestigte Straße, in der ihr Haus steht, ist nach dem sowjetischen Kosmonauten Juri Gagarin benannt und wird von blühenden Fliederbüschen gesäumt, die daran erinnern, wie das Leben hier sein könnte. Doch daran kann die Frau mit dem roten Kopftuch schon lange nicht mehr denken.

Wunsch nach Frieden

"Ich hatte ein langes Leben", sagt sie. In der Ferne donnern die Explosionen. "Ich bin in diesem Haus auf die Welt gekommen, und ich habe vor, auch hier zu sterben." Mehr als die Hälfte der Bewohnerinnen und Bewohner im Donbass haben die Region noch nie verlassen und ihre Hauptstadt noch nicht mit eigenen Augen gesehen – das Misstrauen und die Angst vor Spionen sind in dieser Zeit besonders groß.

"Ich weiß nicht, wem ich glauben soll", sagt Olga und erzählt, dass sie ihre Nachrichten sowohl über russisches Fernsehen als auch über ukrainisches Radio bezieht. "Es ist mir egal, welche Armee hierherkommt. Wann wird endlich Frieden sein?" Nachbarin Galina (76) erzählt, dass sie nicht schlafen kann. "Jedes Mal, wenn wir ins Bett gehen, fragen wir uns, ob wir wieder aufwachen."

Einige Häuser weiter lebt Lida (69). Kurz vor Mittag verabschiedet sie ihre beiden Freunde, die vorbeikamen, um den Geburtstag des Enkelsohns in Donezk zu feiern. Die beiden Gäste torkeln sichtlich betrunken aus dem Garten auf die Straße und nach Hause. Die Fenster, die in den ersten Kriegsjahren zerstört wurden, habe sie erst neu reparieren lassen, erzählt Lida.

In den Mauern und dem Gartentor des Nachbarhauses sind seit sieben, acht Jahren Einschussstellen und von Rost zerfressene Löcher zu sehen. Lida sagt: "Der Frühling ist das Beste, was uns passieren kann." (Daniela Prugger aus der Ostukraine, 23.5.2022)