Trotz regelmäßiger Qualitätskontrollen der Schulleitung "hat das System hier vollständig versagt", hieß es im Jahresbericht der Kinder- und Jugendanwaltschaft.

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Es ist ein bedrückender Missbrauchsfall, über den die Kinder- und Jugendanwaltschaft der Stadt Wien (Kija) berichtet. Demnach wurde die Ombudsstelle von einer Person kontaktiert, die sich "besorgt über die Kommunikationspolitik einer Schule nach dem Suizid eines Lehrers" zeigte, wie es im Jahresbericht der Kija von 2020 heißt, der bereits im Juni 2021 veröffentlicht wurde. Demnach soll ein Pädagoge offenbar über Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, Schülerinnen und Schüler sexuell missbraucht und kinderpornografisches Material angelegt haben. Der Lehrer mag sehr beliebt gewesen sein, heißt es: Nun müsse aber das Befinden der Schülerinnen und Schüler im Vordergrund stehen, "von denen viele wegen des Vorfalls und der Gerüchte geschockt seien".

Die Bildungsdirektion sei von diesem Verdacht im Jahr 2020 umgehend in Kenntnis gesetzt worden, heißt es von der Kija. Öffentlich wurde der Fall nicht: Im Hintergrund begannen aber die eingeschalteten Behörden an der Aufarbeitung des Falles. Auf aktuelle STANDARD-Anfrage heißt es von der Wiener Bildungsdirektion, dass "sofort nach Bekanntwerden der Vorfälle" eine Krisenbetreuung eingerichtet wurde.

Eltern wurden informiert

Tätig wurde hier die Abteilung Schulpsychologie und schulärztlicher Dienst, eingebunden wurde auf Initiative der Kija auch der "Verein Selbstlaut – Fachstelle gegen sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen". Laut Kinder- und Jugendanwaltschaft kooperierte die Bildungsdirektion "mit der Polizei und der Staatsanwaltschaft".

Die Bildungsdirektion verweist auch darauf, dass "alle Eltern des Standorts im Rahmen von Elternabenden informiert" worden seien. Ebenso habe es eine umfassende Information der Lehrpersonen sowie altersgemäß auch der Schülerinnen und Schüler gegeben. "Schulpsychologische Betreuung war während dieser Zeit jederzeit gewährleistet und wurde auch in Anspruch genommen."

Bei den Ermittlungen wurde eine Vielzahl an pornografischen Bildern entdeckt. Diese dürften ohne Wissen der Schülerinnen und Schüler aufgenommen worden sein. "Die tragischen Umstände erzeugen bei allen Beteiligten Erschütterung und ein hohes Maß an Unsicherheit", schreibt die Kinder- und Jugendanwaltschaft. Die Polizei vermittelte Betroffene nach deren Identifizierung auch an das Kinderschutzzentrum Möwe weiter.

Kritik der Ombudsstelle

Trotz dieser Schritte lässt die Kija aber auch mit heftiger Kritik aufhorchen. Das Bild der Situation sorge "für Irritation", heißt es im Jahresbericht 2020. "Wie konnte ein Pädagoge über einen so langen Zeitraum Schüler:innen in diesem Ausmaß unentdeckt sexuell missbrauchen und pornografisches Material auf seinem PC horten?", schrieb die Ombudsstelle.

Direkt oder indirekt betroffene Schüler seien ohnmächtig der Willkür eines Lehrers ausgesetzt gewesen – "und das an einem Ort, an dem sie eigentlich geschützt sein sollten". Trotz regelmäßiger Qualitätskontrollen der Schulleitung "hat das System hier vollständig versagt". So sei der Fall erst durch eine Anzeige und den Suizid des Pädagogen bekannt geworden.

Um den Fall aufzuarbeiten und Versäumnisse zu analysieren, wurde eine Untersuchungskommission zwischen Bildungsdirektion und der Kinder- und Jugendanwaltschaft vereinbart. Diese Kommission wurde aufgrund von Corona und Schulschließungen erst verspätet eingerichtet, wie es zum STANDARD hieß. Noch liegt kein Bericht vor.

Neues Präventionskonzept

Zahlreiche Fragen an die Bildungsdirektion wurden noch nicht beantwortet: etwa jene, wie viele Betroffene es gibt oder ob Minderjährige betroffen sind. Ebenso jene, über wie viele Jahre sich der Missbrauch erstreckte – oder welche Konsequenzen getroffen wurden. Die Bildungsdirektion verweist darauf, dass derzeit bestehende Präventionskonzepte zum Kinderschutz überarbeitet und optimiert würden.

Die Kija kritisiert, dass Schulsozialarbeit und Schulpsychologie "nicht in ausreichendem Maße und flächendeckend" vorhanden sind. Diese würden die Möglichkeit einer unbürokratischen Meldung über Missstände bieten. Schülerinnen und Schüler in Österreich würden kein Instrument der Beurteilung von Lehrkräften haben. (David Krutzler, 23.5.2022)