Irena Sendler nach Kriegsende.

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Ergänzend zu unserer Reihe "Geradegerückt" rücken wir seit kurzem auch nach vor. In der Spin-off-Reihe "Vorgerückt" stellen wir vergessene, kaum gewürdigte und (noch) zu unbekannte, aber beeindruckende Lebensgeschichten vor, die deutliche Spuren hinterlassen haben.

Dort, wo sich die Wurzeln eines Apfelbaums in die dunkle Erde strecken, hat Irena Sendler hunderte Schicksale vergraben. Kleine Zettel, dicht mit Namen und Adressen beschrieben, eingerollt und sorgfältig in Einmachgläsern verschlossen. Ein Glas nach dem anderen hat sie unter dem Baum vergraben, abends und nachts, wenn sie niemand sehen konnte. Auf den Zetteln stehen die Namen jüdischer Buben und Mädchen aus dem Warschauer Ghetto. Sendler hat sie bei Ordensschwestern in katholischen Klöstern versteckt, in Waisenhäusern oder bei polnischen Familien. Wenn ihre Eltern überleben und nach ihnen suchen, weiß Sendler, wo sie zu finden sind.

Als Warschau von den Nationalsozialisten besetzt wird, ist Irena Sendler Ende zwanzig und arbeitet im Sozialamt der Stadt. Sie ist täglich in den Armenvierteln unterwegs, um sich um mittellose Mütter und ihre Kinder zu kümmern. Obwohl er kurz nach ihrer Geburt starb, ist Sendler tief von ihrem Vater Stanisław geprägt. Der katholische Arzt hatte verarmte Menschen kostenlos behandelt, darunter viele Jüdinnen und Juden. Als er sich bei einem Patienten mit Typhus ansteckt und verstirbt, bietet die jüdische Gemeinde seiner Witwe und der kleinen Irena Hilfe an. Das vergisst sie nicht. Schon als Studentin lehnt sie sich auf, als jüdische Studierende diskriminiert werden.

Als Sendler nun bei ihren Rundgängen durch die Stadt beobachtet, wie die jüdische Gemeinde Warschaus von den Besatzern immer stärker drangsaliert wird, zögert sie nicht. Gemeinsam mit anderen Sozialarbeiterinnen beginnt sie, Dokumente zu fälschen. Jüdische Sozialhilfeempfänger bekommen im Verzeichnis des Sozialamts plötzlich unauffällige polnische Namen.

Das Ghetto und die "Inspektorin"

Im Herbst 1940 wird Jüdinnen und Juden aus dem ganzen Land befohlen, in einen Stadtteil westlich des Warschauer Zentrums zu ziehen. Rund um das Gebiet wird eine drei Meter hohe Mauer erbaut, an den Ein- und Ausgängen werden SS-Wachen postiert. Das Warschauer Ghetto ist geschaffen. Auf knapp über drei Quadratkilometern leben hier nun hunderttausende Menschen. Sie müssen in verschiedenen Betrieben Zwangsarbeit verrichten, Nahrungsmittel werden auf Rationen beschränkt, die gerade zum Verhungern reichen.

Eines der bekanntesten Bilder aus dem Warschauer Ghetto: Eine Gruppe Jüdinnen und Juden, unter ihnen ein kleiner Bub, wird deportiert.
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Das Ghetto ist Sperrgebiet, frei betreten können es nur wenige Menschen. Zu ihnen gehören die Mitglieder der sogenannten Sanitärkolonne, die verhindern soll, dass ansteckende Krankheiten aus dem überfüllten Ghetto auf die restliche Stadt übergreifen. Sendler besorgt sich und ihren Kolleginnen gefälschte Dienstausweise. Als Inspektorin getarnt besucht sie ihre Freunde und früheren Kollegen und schmuggelt Medikamente, Lebensmittel und Kleidung in das Ghetto.

Sendler und ihre Verbündeten arbeiten mit dem selbstorganisierten Untergrund vor Ort zusammen. Dieser versucht, den Kindern mit Musik, Theater und Kultur eine Zuflucht vom Ghettoalltag zu bieten. Zu dieser Zeit scheint das Warschauer Ghetto vielen Familien trotz Elend, Krankheit und Hunger noch als sicherster Ort. Eine Flucht gilt als riskant. Sendler kümmert sich daher zunächst um Kinder, die keine Familien mehr haben und auf sich allein gestellt sind. Unter Einsatz ihres Lebens schmuggelt sie sie aus dem Ghetto.

Das Netzwerk der Hilfsbereiten

Babys und Kleinkinder werden in Krankenwagen versteckt oder in Paketen von der "Sanitärinspektorin" Sendler aus dem Ghetto transportiert. Älteren Kindern und Jugendlichen hilft sie dabei, Zwangsarbeit außerhalb der Ghettomauern zu finden – und anschließend zu fliehen. Dabei handelt Sendler nicht alleine: Rund um sie entspinnt sich ein Netzwerk der Hilfsbereiten. Katholische Pfarren und städtische Beamte stellen den Kindern falsche Taufscheine und Geburtsurkunden aus. Anschließend werden sie, mit neuen Namen und Geschichten versehen, in Klöstern, Waisenhäusern oder bei polnischen Familien untergebracht.

Von Sendler gerettete Kinder 1943 in einem katholischen Konvent.
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Dann, im Sommer 1942, beginnt die "Große Aktion" – die systematische Vernichtung der polnischen Juden. Jeden Tag werden 6.000 Menschen aus dem Warschauer Ghetto zusammengetrieben. Jeden Tag fährt ein Zug sie ins Vernichtungslager Treblinka, wo sie ermordet werden. Sendler und ihr Netzwerk versuchen verzweifelt, so viele Kinder wie möglich zu retten. Der wahre und der falsche Name eines jeden Kindes wird von Sendler zusammen mit der Adresse seines Verstecks notiert. 2.500 werden es am Ende sein.

Die lebende Tote

Irgendwann kann Sendler über das Sozialamt nicht mehr helfen. Sie tritt der Untergrundorganisation Żegota bei, die unter Schirmherrschaft der polnischen Exilregierung steht. Ihre einzige Aufgabe ist, polnische Juden vor den Nationalsozialisten zu retten. Sendler übernimmt die Leitung der Kinderabteilung von Żegota. Nur Tage später steht die Gestapo vor ihrer Tür. Sendler schafft es, eine ihrer noch nicht versteckten Listen während der Razzia an eine Verbündete weiterzugeben. Die Kinder darauf können von den Nazis nicht ausfindig gemacht werden – wie auch die Kinder, deren Namen und Daten schon unter dem Apfelbaum liegen.

Sendler als Krankenschwester zu Weihnachten 1944.
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Sendler schweigt, als sie von der Gestapo verhört wird. Sie schweigt, als sie gefoltert wird. Im November 1943 wird sie zum Tode verurteilt. Doch auf dem Weg zu ihrer Hinrichtung schlägt die SS-Wache sie nieder und lässt sie auf der Straße liegen. Die Żegota hat die Männer bestochen und birgt die bewusstlose Sendler. Am nächsten Tag wird ihre Hinrichtung offiziell als vollzogen verlautbart. Von da an gibt sie sich als Krankenschwester namens Klara Dąbrowska aus. Ihre Arbeit bei der Żegota setzt sie nur Wochen später da fort, wo sie mit ihrer Verhaftung geendet hatte.

Als der Krieg endet, hat kaum eines der geretteten Kinder noch eine Familie, mit der es wieder vereint werden kann. Doch dank Sendler hat jedes von ihnen trotzdem eine Zukunft. Nach dem Krieg tritt sie der marxistisch-leninistischen Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PZPR) bei und setzt ihre Sozialarbeit fort. Sie hilft Kindern, Alten und jugendlichen Sexarbeiterinnen und wird mit mehreren Preisen bedacht. Auf einen davon reagiert sie mit den Worten: "Jedes mit meiner Hilfe gerettete Kind ist eine Rechtfertigung meiner Existenz auf dieser Erde, kein Ruhmestitel." Mit 98 Jahren stirbt Irena Sendler in Warschau. Die internationale Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Israel ehrt sie als Gerechte unter den Völkern. In Erinnerung an sie wurde dort ein Gedenkstein errichtet – und ein Baum gepflanzt. (Ricarda Opis, 27.5.2022)