Bei der Hälfte der betroffenen Frauen wird die Lipödem-Erkrankung durch das sogenannte Two-Body-Syndrom sichtbar: schlanker Oberkörper, Fettansammlung in den Unterschenkeln.

Foto: Getty Images/iStockphoto/Nataya Saweddit

Die Beine werden immer dicker. So dick, dass das Gewebe schmerzt, ein Spannungsgefühl entsteht, sich schneller blaue Flecken abzeichnen und Bewegung wehtut. Trotzdem wollen viele Betroffene weiterhin Sport machen – in der Hoffnung, abzunehmen. Vergebens. "Sie können nichts dafür und leiden fürchterlich", sagt Matthias Sandhofer, Gründer der Lipödemzentren in Wien und Linz sowie Dermatochirurg.

Seit 40 Jahren arbeitet und forscht er in dem Bereich und betreut Frauen, die von dem unkontrollierten Wachstum des Fettgewebes betroffen sind. "Viele haben unzählige Diätversuche hinter sich, machen regelmäßig Sport, aber das hilft alles nicht", sagt Sandhofer. Das Lipödem ist diät- und sportresistent. Bei der Krankheit vermehren sich Fettzellen unkontrolliert, Gewebsflüssigkeit lagert sich ab.

In Österreich sind rund fünf Prozent der weiblichen Erwachsenen betroffen, das sind etwa 200.000 Frauen. Manche von ihnen leiden – aber wissen nicht, woran: "Es ist die meistverkannte Krankheit der österreichischen Frauen", sagt der Experte. Das macht den Weg zur Diagnose lange, oft warten Patientinnen Jahre: "Ich behandle genauso auch 70-Jährige, die erstmalig eine Diagnose bekommen", berichtet Sandhofer.

Wenig Bewusstsein in der Bevölkerung

Das Thema ist tabubehaftet, es fehlt an Bewusstsein. In der Bevölkerung gebe es in der Folge ein "großes Informationsdefizit" – und auch in der Medizin. Die Ursachen eines Lipödems waren lange nicht erklärt, erst in den letzten Jahren wurden der Krankheitsverlauf und mögliche Therapieansätze genauer erforscht: "Es ist genetisch, kann sowohl vom Vater als auch von der Mutter weitergegeben werden", stellt Sandhofer klar. Zudem sei das Krankheitsbild hormonell gesteuert, Männer sind nur selten betroffen. Bei den meisten Frauen treten die ersten Symptome in der Pubertät auf. In vielen Fällen beginnt dann eine Abwärtsspirale, eine "lausige Geschichte", wie der Experte sagt: "Pille und hormonelle Therapien verstärken die Krankheit. Vielen haben zusätzlich ein Schilddrüsenproblem oder das Fatigue-Syndrom, also Erschöpfungszustände. Das belastet psychisch, Betroffene nehmen deshalb häufig Antidepressiva, was wiederum den Effekt weiter verschlimmert."

Betroffene werden abgewertet

Bei der Hälfte der Patientinnen wird die Erkrankung durch das sogenannte Two-Body-Syndrom sichtbar: schlanker Oberkörper, Fettansammlungen in den Unterschenkeln. Die zweite Hälfte entwickelt zusätzlich metabolische Adipositas, also stoffwechselbedingte Fettleibigkeit. "Man muss die beiden Dinge separiert behandeln", sagt Sandhofer.

Die Folgen einer Lipödem-Erkrankung würden Patientinnen vor allem auch im gesellschaftlichen Leben zu spüren bekommen: "Betroffene sind gepeinigt. Sie gehen nicht mehr unter Menschen, etwa in Freibäder. Von ihrer Umgebung werden sie als Fresssäcke wahrgenommen. Abwertende Begriffe wie ‚Krautstampfer‘ machen das soziale Gefälle deutlich", berichtet Sandhofer aus der Praxis.

"Betroffene sind gepeinigt und gehen häufig nicht mehr unter Menschen."

Matthias Sandhofer, Gründer der Lipödemzentren in Wien und Linz

Bei Lipödem handelt es sich nicht um eine Erkrankung des metabolischen Speicherfettes, sondern um sogenanntes Strukturfett: "Gefäße in der Lederhaut werden durchlässig. Am Rand dieser Gefäße sitzen Stammzellen, die aufgrund der Durchlässigkeit ins Gewebe gespült werden", erklärt der Experte den Krankheitsverlauf. Das führt zu einer Adipogenese, der Bildung von Fettzellen aus ebendiesen Stammzellen. "Die Regulierung des Fettauf- und -abbaus, die vom Gehirn aus gesteuert wird, endet. Die Adipogenese schnürt die ableitenden Lymphgefäße zu, sodass es zu einem massiven Stau im obersten Hautbereich kommt", sagt Sandhofer.

Die Erkrankung wird in drei Phasen unterteilt. Im ersten Stadium ist zwar die Unterhaut der Beine und Arme schon verdickt, aber die sichtbare Hautoberfläche noch glatt. In der zweiten Phase sind die Extremitäten weiter verdickt, die Haut wird knotig. Im letzten Stadium sind Arme und Beine dick, Hand- und Fußgelenke bleiben aber ausgespart, sodass sich das überschüssige Gewebe in Form von sogenannten Wammen häufig an der Innenseite der Knie hervorwölbt.

Die einzige Möglichkeit, die Krankheit langfristig zu bekämpfen, ist eine Liposuktion, also das Fett abzusaugen. "Dadurch werden die Lymphgefäße wieder durchlässig. Es ist, wie wenn man aus einer vollen Badewanne den Stöpsel zieht. Betroffene spüren schon am nächsten Tag, dass der Druck nachlässt", erklärt Sandhofer. Meist sind die Patientinnen dann langfristig geheilt. Studien zeigen, dass in etwa 95 Prozent der Fälle das Lipödem nicht wiederkommt.

Nur, das kostet: Die zwei bis vier Operationen liegen gesamt bei zwischen 10.000 und 15.000 Euro, in vielen Fällen werden die Eingriffe nicht zur Gänze von der Versicherung übernommen. "Die Menschen sind unterversichert. Das, was von Versicherungen oft angeboten wird, bringt langfristig nichts. Nur wenige Tage nach Kuraufenthalten und einer Lymphdrainage leiden Betroffene wieder so wie zuvor", sagt der Experte. Auch in diesem Bereich werde die Erkrankung laut Sandhofer zu wenig ernst genommen. (Magdalena Pötsch, 23.5.2022)