Die Gasversorgung Europas ist eine komplexe Angelegenheit. Im Krisenfall hilft rasche Koordination.

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Ein Gasstopp gilt – zumindest in Österreich – als das Worstcase-Szenario im Wirtschaftskrieg gegen Russland. Egal ob Putin den Hahn zudreht oder sich die Europäische Union auf ein Embargo einigt: Von der Gasknappheit wären praktisch alle Industriezweige direkt oder indirekt betroffen. Aber welche Konsequenzen hätte das Szenario für die Volkswirtschaft? Und wie ließen sich die negativen Folgen möglichst gut abfedern?

In einer aktuellen Studie kommen Forscher des Complexity Science Hub Vienna (CSH) zu einem differenzierten Ergebnis. Ein sofortiger Gasstopp würde die Produktion in Österreich demnach im schlechtesten Fall um 9,1 Prozent einbrechen lassen. Es gibt aber auch eine gute Nachricht: Durch ein koordiniertes Vorgehen könnten die EU-Staaten die negativen Effekte weitgehend vermeiden.

Koordination entscheidend

Die Forscher des CSH, die zuletzt vor allem mit Analysen zur Corona-Krise aufgefallen sind, gingen in ihren Berechnungen davon aus, dass ab 1. Juni gar kein Gas mehr in die Europäische Union fließt. Damit würde Österreich mit einem Schlag rund 80 Prozent seiner Gaskapazitäten fehlen. Ein Teil davon könnte durch zusätzliche Käufe, umgerüstete Kraftwerke und Energiesparen kompensiert werden. Entscheidend ist laut der Studie aber die Kooperation der EU-Mitgliedsstaaten untereinander.

Um das zu verdeutlichen, haben die Forscher zwei Szenarien berechnet: Arbeiten die Staaten nicht zusammen, sondern setzen auf eigene Zukäufe, müsste die österreichische Industrie ihren Gasverbrauch um 53,3 Prozent senken. Die gesamtwirtschaftlichen Folgen wären deutlich spürbar: Zu rechnen wäre mit einem Produktionsrückgang von rund 9,1 Prozent. Kommt es zu einer "starken und koordinierten politischen Reaktion", müsste die Industrie ihren Verbrauch dagegen lediglich um 10,4 Prozent reduzieren. Gesamtwirtschaftlich beliefe sich der Rückgang auf 1,9 Prozent.

Gleichmäßige Lastenverteilung

Laut den Forschern um Anton Pichler und Stefan Thurner lassen sich aus den Ergebnissen klare Empfehlungen ableiten. Durch eine gleichmäßige Verteilung des übrigen Gases in Europa und den Import von Flüssiggas aus den USA oder den Golfstaaten könnte der Wegfall der russischen Importe zu einem großen Teil abgefedert werden.

Insgesamt ergebe sich dadurch für jedes Mitgliedsland ein durchschnittlicher Engpass von 17,4 Prozent. Damit würde es Staaten geben, die ihren Verbrauch reduzieren müssen, obwohl sie selbst kein Gas aus Russland importieren. Trotzdem mache es Sinn, besonders exponierte Länder wie Österreich zu schützen, sagt Mitautor Johannes Stangl. "Die wirtschaftlichen Einbrüche pflanzen sich ja über den gemeinsamen Markt fort."

Großes Potenzial besteht laut den Forschern auch bei der Umstellung von Gaskraftwerken auf Öl. Insgesamt könnte Österreich damit rund zehn Prozent des Gasverbrauchs reduzieren. Und auch Privathaushalte könnten ihren Beitrag leisten: Senken sie ihre Raumtemperatur um ein Grad, würde Österreich 1,2 Prozent des Verbrauchs einsparen. Indirekt könne man so wirtschaftliche Einbußen verringern und Arbeitsplätze sichern, betonen die Autoren. Daher brauche es Anreize für die Bevölkerung, sich aktiv am Gassparen zu beteiligen.

Verluste in "begrenztem Ausmaß"

Auch wenn die EU-Staaten kooperieren, wären die Verluste durch einen Gaslieferstopp Russlands oder ein Embargo für die österreichische Wirtschaft "spürbar", sagen die Forscher. Sie würden aber "in begrenztem Ausmaß" ausfallen. Die Produktionsverluste würden sich pro Monat auf 1,11 Milliarden Euro belaufen und wären damit "signifikant kleiner als die wirtschaftlichen Auswirkungen der ersten Welle der Covid-19-Pandemie".

Seit Kriegsbeginn hat die EU russisches Gas im Wert von rund 24 Milliarden Euro importiert. Vier Milliarden Euro gingen an finanzieller und militärischer Unterstützung an die Ukraine. "Auch Wiederaufbaukosten werden auf Milliarden Euro geschätzt, ganz zu schweigen vom menschlichen Leid in der Ukraine", sagt Thurner. Angesichts der immensen Schäden des Krieges könne ein EU-weites Embargo daher auch eine "wirtschaftlich vertretbare Strategie sein".

Mehrere Studien

In den vergangenen Monaten haben auch andere Institute Studien zu einem möglichen Gasstopp veröffentlicht. Im April berechnete etwa die Oesterreichische Nationalbank (OenB), dass ein kompletter Ausfall russischer Gasimporte 3,1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) kosten würde. Bei einem prognostizierten Wachstum von 3,5 Prozent wäre die Bilanz demnach aber immer noch leicht positiv.

Von einem etwas stärkeren Einbruch ging zuletzt der wirtschaftsliberale Thinktank Agenda Austria aus. In einem "optimistischen Szenario" komme es demnach zu einem Rückgang der Wirtschaftsleistung um 1,5 Prozentpunkte, in einem "pessimistischen Szenario" zu einem Rückgang um 4,5 Prozentpunkte. Die Wirtschaft würde im Fall eines Gasembargos laut Agenda Austria "bestenfalls stagnieren". (Jakob Pflügl, 24.5.2022)