Ilana Bet-El, Historikerin und Senior Associate Fellow des European Leadership Network, und der ehemalige stellvertretende Nato-Oberbefehlshaber für Europa, Rupert Smith, argumentieren in ihrem Gastkommentar, dass Europa wie auch die USA verstärkt auf Abschreckung setzen müssen.

Die Nato-Oberbefehlshaber haben neben der Diskussion über den Krieg in der Ukraine wohl noch ein weiteres Thema, das sie gedanklich beschäftigt: die Prioritäten, die das Militärbündnis in den kommenden Jahren bestimmen wird. Und hier hat das Verhalten Russlands gezeigt, dass eine Wiederherstellung der Abschreckung eine zentrale Rolle spielen muss.

Als Russland begann, Ende letzten Jahres Truppen an der Grenze zur Ukraine zusammenzuziehen, beschritt es einen Pfad der Aggression nicht nur gegenüber der Ukraine, sondern gegenüber den Ländern, die es als den "kollektiven Westen" bezeichnet, insbesondere der Europäischen Union und der Nato. Russland wollte die Ukraine und den Westen von einer Ausweitung ihrer Zusammenarbeit abschrecken, während der Westen Russland vor einer Aggression abschrecken wollte. Die anschließende Invasion ist auf ein massives Versagen dieser Abschreckung zurückzuführen.

Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine und seine Folgen: Braucht es wieder eine Politik der Abschreckung?
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Die Ukrainer haben eine beeindruckende Verteidigungsleistung gezeigt, und die EU, die Nato und andere westliche Partner und Verbündete haben ihre Wirtschafts- und Finanzsanktionen und ihre Hilfsleistungen kontinuierlich ausgeweitet. Doch wir befinden uns in einem gefährlichen Kreislauf der Eskalation. Die Lage verlangt eine glaubwürdige Abschreckung, die weit über den traditionellen "nuklearen Schutzschirm" hinausreicht.

Schließlich geht es bei der Abschreckung nicht nur um einen Atomkrieg. Sie ist für alle Formen der Konfrontation relevant – sei es in der Wirtschaft oder auf dem Schlachtfeld.

Zur Eskalation bereit

Es geht darum, einen Gegner zu überzeugen, dass etwas in seinem eigenen Interesse zu unterlassen ist. Russland versuchte zunächst, die Ukraine und den Westen durch Zusammenziehung seiner Truppen entlang der Grenzen zur Ukraine abzuschrecken. Doch als es das tat, veröffentlichten die USA und ihre Nato-Verbündeten tägliche Geheimdiensterkenntnisse und Daten, die dem Kreml klar signalisierten, dass sie sich über dessen Tun im Klaren waren. Derartige Signale sind das erste Element der Abschreckung.

Ein weiteres zentrales Element ist die Ansicht, dass ein Gegner zur Eskalation seiner Maßnahmen bereit ist, wenn die andere Seite nicht ihren Kurs ändert. Mit Ausnahme der USA glaubte kaum jemand, dass Russland eine umfassende Invasion einleiten oder seine Drohungen gegenüber der Nato und neutralen Staaten umsetzen würde. Doch Russland ist einmarschiert und hat seitdem verhüllte nukleare Drohungen ausgesprochen und sogar eine neue Hyperschallrakete getestet.

"Was die Ukraine angeht, so bestand deren Abschreckungsstrategie im Wesentlichen darin, ein Bild von sich selbst als einem bereits zum Westen gehörenden Land zu projizieren."

In ähnlicher Weise hat der russische Präsident Wladimir Putin den französischen Präsidenten Emmanuel Macron, den deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz und andere westliche Staats- und Regierungschefs nicht ernstgenommen, als diese ihre Absicht zur Unterstützung der Ukraine zum Ausdruck brachten. Der Kreml hörte diese Aussagen, aber er hörte zugleich Äußerungen anderer Staats- und Regierungschefs, darunter von US-Präsident Joe Biden, dass diese keine Truppen schicken würden, um ein Nicht-Nato-Land zu verteidigen. Russland entschied sich daher zur Invasion und wurde dann von Ausmaß und Intensität der westlichen Reaktion überrascht.

Was die Ukraine angeht, so bestand deren Abschreckungsstrategie im Wesentlichen darin, ein Bild von sich selbst als einem bereits zum Westen gehörenden Land zu projizieren. Und obwohl der Kreml sich davon nicht überzeugen ließ, unterschätzte er eindeutig die Einigkeit der Ukrainer und die Fähigkeiten und Kompetenz ihrer Armee, obwohl er seit seinem Einmarsch 2014 gegen die ukrainischen Streitkräfte kämpft.

Heroische Selbstverteidigung

Die heroische Selbstverteidigung der Ukraine erinnert uns daran, dass es jenseits des Schlachtfelds und der Wirtschaft, jenseits von Sanktionen und Institutionen, noch die normale Bevölkerung gibt: Der Krieg findet inmitten dieser statt, und sie wird ihn letztlich entscheiden. Obwohl der Wille der Ukrainer, ihr Leben, ihre Heimat und ihre Ideale zu verteidigen, die russische Führung bisher nicht abgeschreckt hat, gibt es starke Hinweise dafür, dass er viele russische Soldaten vom Kämpfen abgeschreckt hat.

Mit Blick auf die Zukunft muss die westliche Abschreckung ein primäres strategisches Ziel und daher umfassender werden – sowie alle wichtigen Elemente mit einschließen. US-Verteidigungsminister Lloyd Austin hat einen Schritt in diese Richtung unternommen, indem er ankündigte, dass eines von Amerikas Zielen nun "eine derartige Schwächung Russlands [sei], dass es die Art von Dingen, die es bei der Invasion der Ukraine getan hat, nicht [wieder] tun kann". Und das Leih- und Pachtgesetz im Volumen von 33 Milliarden US-Dollar, das Biden am 9. Mai unterzeichnet hat, wird dieses Ziel weiter vorantreiben.

Breite Unterstützung

Doch reicht das nicht aus. Die Abschreckung muss ein populäres Ziel sein, das breite öffentliche Unterstützung genießt. Sie muss zudem von anderen Ländern unterstützt werden, weil internationale Zusammenarbeit zur Gewährleistung der Sicherheit kleinerer, anfälliger Staaten unverzichtbar ist. Eine derartige breite Unterstützung erfordert eine wirksame, inspirierende Führung von der Art, wie sie der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bisher gezeigt hat. Er hat nicht nur das ukrainische Volk mobilisiert, sondern die gesamte westliche Welt. Andere Staats- und Regierungschefs täten gut daran, seinem Beispiel zu folgen.

Abschließend ist es wichtig, sich daran zu erinnern, wo die Abschreckung im umfassenderen Kontext der Globalisierung ihren Platz hat. Russland wurde durch die von ihm geförderten wirtschaftlichen Interdependenzen ermutigt und gestärkt durch seinen Status als Ständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat mit Vetomacht. Die Abschreckung muss Maßnahmen umfassen, um beide Faktoren zu neutralisieren oder zu beschränken.

Der Krieg in der Ukraine ist das Ergebnis unzureichender Abschreckung. Ohne diese wird es letztlich keinen Frieden geben. (Ilana Bet-El, Rupert Smith, Übersetzung: Jan Doolan, Copyright: Project Syndicate, 26.5.2022)