Die Missbrauchsfälle gehen laut Polizei bis ins Jahr 2009 zurück.

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Es ist wohl einer der größten Fälle von sexuellem Missbrauch, die es in Wien in den vergangenen Jahren gegeben hat. Ein Pädagoge einer Mittelschule soll Schüler über Jahre sexuell missbraucht und kinderpornografisches Material angefertigt haben. Die Landespolizeidirektion Wien bestätigte dem STANDARD entsprechende Informationen am Dienstag. Den polizeilichen Ermittlungen zufolge gebe es insgesamt 25 Opfer wegen sexuellen Missbrauchs sowie wegen Kinderpornografie, sagte Mohamed Ibrahim, Sprecher der Wiener Polizei. Laut Bildungsdirektion der Stadt Wien soll es sich ausschließlich um Buben handeln, die zum Zeitpunkt der Verbrechen zwischen elf und 14 Jahre alt waren. Die Fälle gehen laut Polizei "bis ins Jahr 2009 zurück".

Fall ist 2019 aufgekommen

Aufgekommen – aber bislang von den Behörden nicht öffentlich gemacht – ist der Fall bereits im Jahr 2019: Anfang April sei eine erste Anzeige über einen Missbrauchsverdacht bei den Behörden eingelangt, sagte Polizeisprecher Ibrahim. Ermittlungen hätten daraufhin zu einer Hausdurchsuchung bei dem Betroffenen geführt. Wenig später kam es zum Suizid des Lehrers – vor dessen geplanter Einvernahme.

Der Pädagoge soll ein "ausgesprochen beliebter Kollege" gewesen sein. So heißt es nicht nur in einer Stellungnahme der Bildungsdirektion, so erzählen es auch Schülerinnen, Schüler und Eltern, die den STANDARD im Laufe der Recherche kontaktierten. Nach dem Ableben des Pädagogen erfolgte eine Krisenintervention samt schulpsychologischer Betreuung. Laut Bildungsdirektion gab es "zum damaligen Zeitpunkt keinerlei Informationen über die Straftaten des verstorbenen Kollegen".

Die Polizei wies darauf hin, dass die Schule bereits "Mitte Mai 2019" von Ermittlungen gegen eine Lehrkraft informiert worden sei. Wie konkret diese Information ausfiel, ließ sich vorerst nicht rekonstruieren. Jedenfalls will die Schule erst im Oktober 2019 vom Missbrauchsverdacht erfahren haben. "Am 10. Oktober 2019 setzte sich der Schulleiter unverzüglich mit der Bildungsdirektion in Verbindung, nachdem die Polizei sich erstmals bezüglich des Missbrauchsverdachts gemeldet hatte." So steht es in einer Stellungnahme der Bildungsdirektion an den STANDARD.

Eltern erfuhren Mitte Dezember von den Vorwürfen

Die Eltern wurden nicht unmittelbar, sondern zwei Monate später davon informiert: Am 12. Dezember 2019 wurde vom Schulleiter ein Elternabend für denselben Tag einberufen. Eingebunden war auch der "Verein Selbstlaut – Fachstelle gegen sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen". Den Eltern sei dort auf Nachfrage auch erzählt worden, dass der Pädagoge die betroffenen Kinder mit zu sich nach Hause genommen hatte, etwa weil er Nachhilfe angeboten hatte. Auch K.-o.-Tropfen sollen im Spiel gewesen sein. Pornografisches Material sei auf dem PC des Pädagogen gefunden worden.

Dass die Eltern nicht früher informiert wurden, kritisiert eine Mutter. "Da wurde versucht, viel unter den Teppich zu kehren." Der Pädagoge war zudem auch in einem Wiener Sportverein als Funktionär aktiv.

Bericht einer Untersuchungskommission noch nicht fertig

Die Kinder- und Jugendanwaltschaft der Stadt Wien hat, ohne Details zu nennen, erstmals im Jahresbericht 2020 den Missbrauchsfall thematisiert. Schüler seien ohnmächtig der Willkür eines Lehrers ausgesetzt gewesen, heißt es von der Ombudsstelle – "und das an einem Ort, an dem sie eigentlich geschützt sein sollten". Trotz Qualitätskontrollen der Schulleitung "hat das System hier vollständig versagt". So sei der Fall erst durch eine Anzeige und den Suizid des Pädagogen bekannt geworden.

Um den Fall aufzuarbeiten und Versäumnisse zu analysieren, wurde im Jahr 2020 zwischen der Ombudsstelle und der Bildungsdirektion eine Untersuchungskommission vereinbart. Ein Bericht liegt noch nicht vor.

Präventionskonzepte "an allen Schulstandorten"

Die Bildungsdirektion verweist darauf, dass am Standort ein "umfassendes Aufarbeitungskonzept entwickelt und umgesetzt" worden sei. Zudem werden ab dem kommenden Schuljahr 2022/23 "Präventionskonzepte gegen sexuelle Übergriffe und Missbrauch an allen Schulstandorten neu aufgesetzt".

Die Arbeit in der Kommission zur Aufarbeitung des Missbrauchsfalls werde noch fortgesetzt. "Die bisherigen Befragungen haben noch keine Hinweise darauf gebracht, dass es am Standort Vermutungen oder den Verdacht auf Missbrauch gegeben hat." (David Krutzler, 24.5.2022)