In vielen Ländern erholten sich die Geburtenraten nach einem temporären Absinken wieder, Eltern wie Großeltern konnten sich über Nachwuchs freuen.
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Alle zwei Jahre trägt das Wittgenstein Centre in einem Datenblatt Statistiken zu Todesfällen, Geburtenraten und Migration zusammen. Die aktuelle Veröffentlichung, mit der auf die vergangenen Jahre zurückgeblickt wird, stellt naheliegenderweise die Covid-19-Pandemie in den Mittelpunkt – und zeigt, wie sie sich auf die Bevölkerung Europas auswirkte. Am neuesten Datenblatt beteiligt waren Forschende der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW), der Universität Wien und des Internationalen Instituts für angewandte Systemanalyse (IIASA). "Wahrscheinlich handelt es sich um den stärksten Anstieg der Todesfälle seit dem Zweiten Weltkrieg", sagt Tomáš Sobotka vom Institut für Demographie der ÖAW.

Grafik: Wittgenstein Centre, Der Standard

Vergleicht man die Zahlen für Österreich zwischen dem Jahr vor der Pandemie, 2019, und den folgenden beiden Jahren, so gab es 2020 zwölf Prozent mehr Todesfälle, 2021 waren es noch immer zehn Prozent. Ein massiver Anstieg, wie Sobotka und seine Kollegin Zuzanna Brzozowska bei einem Pressegespräch betonen. Üblicherweise schwanke dieser Wert selbst in Jahren mit starker Grippesaison um nicht mehr als ein bis drei Prozent. Weltweit seien die Werte mit den zusätzlichen Todesfällen vergleichbar, die das HI-Virus durch das Auslösen der Krankheit Aids in den 1990er-Jahren in afrikanischen Ländern mit sich brachte.

Ost-West-Unterschied

Die Übersterblichkeit lag im Durchschnitt der Europäischen Union mit 13 Prozent etwas höher, es zeigen sich aber deutliche Unterschiede innerhalb Europas, sagt Brzozowska: "Die Grenze verläuft bis auf einzelne Ausnahmen entlang des Eisernen Vorhangs." In einigen osteuropäischen Ländern wie Russland und Serbien sei die Anzahl der Todesfälle sogar um über ein Drittel gestiegen. Spitzenreiter Norwegen kam in den Pandemiejahren auf nur zwei Prozent mehr Todesfälle. Schweden bildet unter den verhältnismäßig niedrigen Todesraten Skandinaviens einen Ausreißer, es liegt genau im EU-Durchschnitt.

Die Unterschiede zwischen West und Ost haben sich also verschärft. Das zeigt sich auch in der errechneten Lebenserwartung bei der Geburt: Burschen, die 2021 in der Schweiz zur Welt kamen, haben durchschnittlich mehr als 82 Jahre zu leben, in Russland – wo sich der Trend bis 2019 verbessert hatte – sind es mit rund 65 Jahren ganze 17 Jahre weniger. Massiv sank in Russland innerhalb von zwei Jahren auch die Lebenserwartung für Mädchen, die mit Geburtsjahr 2021 im Schnitt etwa 74 Jahre alt werden dürften – ein Rückgang um fast vier Jahre. In vielen osteuropäischen Ländern erholte sich dieser Absturz bisher nicht.

Die errechneten durchschnittlichen Lebenserwartungen für das aktuelle Geburtsjahr haben sich im Verlauf der Pandemie bei Frauen (links) und Männern (rechts) verändert. In vielen Ländern gab es pandemiebedingt 2020 einen Einbruch, in anderen erholte sich dieser Trend bisher noch nicht. Der Unterschied zwischen den am längsten und kürzesten lebenden Menschen auf dem europäischen Kontinent liegt bei elf Jahren (Frauen) beziehungsweise 17 Jahren (Männer).
Bild: Wittgenstein Centre / Vienna Institute of Demography

Pandemiefolgen nach neun Monaten

In Österreich sank die Lebenserwartung aktuellen Schätzungen zufolge um 0,7 Jahre und blieb damit relativ stabil. Interessant ist im Corona-Kontext der Blick auf Schweden und Italien, sagt Sobotka: "Diese zwei Länder litten stark unter der ersten Welle und zeigen für 2020 einen Rückgang, im Folgejahr aber bereits eine starke Erholung." Auch unter den Spanierinnen, die bei der europäischen Lebenserwartung mit 86 Jahren vorne liegen, stieg der Wert nach einem starken pandemiebedingten Einbruch wieder an.

Bei der Geburtenrate hingegen liegt Spanien weit zurück: Hier wurde pandemiebedingt der stärkste Rückgang beobachtet. Im Gegensatz zu den Todesfällen spielen hier freilich erst Zahlen ab Ende 2020 eine Rolle – erst neun Monate nach Pandemiebeginn zeigen sich die Auswirkungen deutlich. Quasi in ganz Europa kamen im Dezember 2020 weniger Babys als im gleichen Monat des Vorjahres zur Welt, sagt Brzozowska. Dies dürfte den Fachleuten für Demografie zufolge an der großen Verunsicherung liegen, die der erste Lockdown mit sich brachte.

Nachgeholte Familienplanung

Nach der ersten Welle holten einige Paare, die die Familienplanung kurzfristig verzögert hatten, diese nach, auch in Österreich. Einen weiteren Anstieg der Geburtenrate gab es im Herbst 2021, als nicht nur Ex-Bundeskanzler Sebastian Kurz Vater wurde. Dies betraf aber eher Familien, die bereits ein erstes Kind hatten und sich für ein zweites oder drittes entschieden, sagt Tomáš Sobotka. Zurückgerechnet könnten sich finanziell verhältnismäßig stabile Paare zwischen dem zweiten und dritten Lockdown an die Maßnahmen gewöhnt haben, vermutet der Demograf. Insgesamt kam es 2021 in Österreich zu einem leichten Anstieg der Geburtenrate, nämlich um zwei Prozent.

Die Grafik zeigt für den EU-Durchschnitt und verschiedene Länder, wie sich die Geburtenzahlen in den letzten Monaten des Jahres 2020 – als Folge der Pandemiemaßnahmen – und im Jahr 2021 veränderten.
Bild: Institut für Demographie / ÖAW, Tomáš Sobotka, Zuzanna Brzozowska

Überraschend ist der Fall Finnland, wo es – von einem kurzen Einbruch abgesehen – merklich mehr Babys gab. Dies könne damit zusammenhängen, dass die Geburtenrate des Landes seit rund zehn Jahren zurückgeht und sich der Wert deshalb erholt. Hier spielt wohl auch die zeitverzögerte Entscheidung für das Kinderkriegen hinein; immerhin besteht ein Grund für relativ wenige Geburten in Europa darin, dass viele Frauen erst in späterem Alter Mütter werden.

Sorgen um die Zukunft

Dafür ist wohl nicht nur berufliche Selbstverwirklichung verantwortlich, wie Sobotka verdeutlicht: "Vor allem jungen Erwachsenen fehlen stabile Jobverhältnisse und gute Einkommen." Kombiniert mit enorm hohen Immobilienpreisen habe dies bereits vor der Pandemie für eine größere Unsicherheit als bei vorangehenden Generationen gesorgt. Manche müssen die Familiengründung auf einen späteren Zeitpunkt verschieben – oder bekommen gar keine Kinder.

Während sich also in vielen nordischen Ländern – und auch im Rest Europas – die Covid-19-Pandemie nicht nachteilig auf die Geburtenrate ausgewirkt hat, ist der generelle Trend zu berücksichtigen. Die "Fruchtbarkeitsrate", wie die durchschnittliche Zahl der Kinder pro Frau genannt wird, ist relativ niedrig. "Greta Thunberg kommt aus Skandinavien – dort haben sich die Sorgen angesichts der Klimakrise und anderer ökonomischer Unsicherheiten herauskristallisiert, bevor sie in anderen Ländern auftraten", sagt Sobotka. Zu diesem Erklärungsversuch gibt es noch keine Daten, aber er könnte zu einer kritischeren Sicht auf die eigene Fortpflanzung beitragen.

Europäische Migration

Aber nicht nur die Fruchtbarkeitsrate ist ein Näherungswert für das Bevölkerungswachstum. Während Geburten und Sterbefälle sich hierzulande im Jahr 2021 ausglichen, kam es dennoch zu einem Wachstum. Dafür sorgte die Migration. Die aktuellen Statistiken werfen auch ein Schlaglicht darauf, wie Zuwanderung aus anderen Ländern die Population voraussichtlich verändern wird.

Für Österreich und Deutschland rechnen die Fachleute damit, dass die Bevölkerung im Erwerbsalter bis zum Jahr 2060 um zehn Prozent sinkt. Wesentlich dramatischer sähe die Situation aus, wenn weder aus der EU noch aus Drittstaaten Menschen zuziehen würden: Dann würde die Bevölkerung zwischen 20 und 64 Jahren den Prognosen zufolge um 40 Prozent zurückgehen.

Die Bevölkerung im Alter von 20 bis 65 Jahren dürfte in den meisten europäischen Ländern bis zum Jahr 2060 abnehmen. Die gestrichelten Linien zeigen die Prognosen ohne Einfluss von Migration, Vierecke mit Einwanderung aus EU-Staaten und Dreiecke die Entwicklung anhand Migration aus Nicht-EU-Ländern. Die gelbe Linie stellt jeweils eine mittlere Entwicklung dar.
Bild: Wittgenstein Centre / Vienna Institute of Demography

In Süd- und Osteuropa fällt dies noch dramatischer aus: "Unsere Daten zeigen, dass für den Bevölkerungsschwund in Osteuropa die Abwanderung der Menschen in wohlhabendere Länder des Kontinents ausschlaggebend ist", sagt Sobotka. Die arbeitsfähige Bevölkerungsschicht dürfte in Ost- und Südeuropa künftig noch massiver zurückgehen und die Probleme der alternden Bevölkerung verschärfen. Auch dann, wenn der Zuzug aus Nicht-EU-Ländern wie bisher teilweise für Ausgleich sorgt. (Julia Sica, 7.6.2022)