Es war ein langer Weg für Olena (Name von d. Red. geändert) von Mariupol bis vor das Uno-Gebäude in Wien. Einer über viele Umwege. Viele Kontrollpunkte liegen dazwischen. Viele Fragen sind ihr gestellt worden. Und jetzt steht sie da mit einem A4-Zettel, auf den sie mit Filzstift die ukrainische Fahne gemalt und "Ich komme aus Mariupol" geschrieben hat. Mehr Worte braucht es eigentlich nicht, um zu beschreiben, was sie hinter sich hat. Oder: Ein A4-Zettel würde nicht ausreichen, um das Erfahrene zu schildern.

Wegzugehen, das war irgendwann keine Abwägung von Risiken oder Präferenzen mehr, das war ein Muss. Da hatten sie zusammen mit Nachbarn im Hof des Wohnblocks, in dem sie wohnte, schon dutzende Tote begraben; da hatte man bereits aufgehört, die Toten zu begraben, die auf der Straße lagen, weil zu viel geschossen wurde; da hatte sie Wochen im Keller verbracht, den nur die Frauen verließen, um Wasser zu holen, weil auf Männer unverzüglich geschossen wurde; da war bis genau oberhalb ihrer Wohnung der ganze Wohnblock infolge des Artilleriefeuers schon eingestürzt.

Flucht mit der alten Mutter

An einem anderen Tag aber, da stand dann ein verbeulter Shiguli vor der Tür, während es rundherum krachte. Ihre Kinder hatten den Fahrer von Wien aus über viele Umwege organisiert. Sie habe dann den Nachbarn gesagt, "nehmt euch aus meiner Wohnung, was ihr braucht", und ist mit ihrer 88-jährigen Mutter weggegangen, die kaum noch gehen kann. Erst nach Berdyansk, dann nach Chonhar an der Grenze zwischen der Krim und dem ukrainischen Festland. Und an jeder Station ein bisschen Filtration. "Aber wir waren so dreckig, dass man uns beide für sehr, sehr alte Damen hielt und durchließ", sagt Olena.

Diese Flüchtlinge aus Mariupol haben es – vorerst – in Sicherheit geschafft: In Flüchtlingsunterkünften in Saporischschja, das unter ukrainischer Kontrolle steht, finden jene Zuflucht, die nicht ins Ausland können.
Foto: Reuters / Gleb Garanich

Aus Mariupol wie aus der gesamten Südukraine rauszukommen, das ist ein Spießrutenlauf. Telefone werden durchsucht, von vielen Fliehenden wird verlangt, sich auszuziehen, damit der Körper nach patriotischen ukrainischen Tätowierungen abgesucht werden kann. Filtration nennt sich das. Für Männer ist es praktisch nicht möglich, die Region zu verlassen. Oder nur unter sehr großem Risiko. Denn Filtration, das kann auch Lagerhaft bedeuten. Wer den Besatzern verdächtig vorkommt, wird inhaftiert. Allein 3000 Menschen aus Mariupol sollen die Russen auf dem Weg aus der Stadt weggesperrt haben, sagen ukrainische Stellen.

Eine sanfte Vorahnung davon, was Filtration bedeuten kann, hat Wiras (Name geändert) 16-jähriger Sohn erfahren. Auch sie sind aus Mariupol geflohen. In Berdjansk wurde ihr Sohn sechs Stunden befragt. "Als er aus dem Container herauskam, habe ich ihn kaum noch erkannt", erzählt Wira. Auf dem Telefon des Buben fanden die Soldaten im Chatverlauf eines Onlinespieles eine Konversation mit einem Freud aus Rosotow in Russland. Scherze – Scherze mit politischem Inhalt. Die Folge: Schläge und Fragen über Fragen. Was er über militärische Positionen wisse, was über das Asow-Bataillon. Letztlich kam der Bursche durch. Er musste sich in einem Video, das die Soldaten drehten, für Äußerungen entschuldigen.

Ethnische Säuberungen

Die Filtration geht ukrainischen Stellen zufolge so weit, dass bereits von ethnischen Säuberungen gesprochen werden kann. Über das System dahinter ist allerdings sehr wenig bekannt. Vor allem nicht darüber, was mit Personen passiert, die als verdächtig eingestuft und gegen ihren Willen nach Russland gebracht werden. Medienberichten zufolge sollen Lagerkolonien aus sowjetischer Zeit in Sibirien wieder aktiviert worden sein.

Nicht alle wollen oder können fliehen, nicht alle schaffen die Flucht. Olena (nicht im Bild) hat es geschafft.
Foto: IMAGO/Peter Kovalev

Über den Verbleib tausender Männer – wie auch der Soldaten, die im Asow-Stahlwerk in Mariupol bis zuletzt Widerstand leisteten – ist aber so gut wie nichts bekannt. Laut der renommierten ukrainischen Menschenrechtsorganisation Kharkiv Human Rights Protection Group sollen auf russischem Gebiet aber sage und schreibe bereits 68 Lager bestehen, in denen um die 7000 Ukrainer festgehalten würden. Offiziell ist darüber aber nichts bekannt.

Viele Verschleppungen

Was sie, Wira und andere, schildern, ist zugleich ein System, in dem bei jedem Kontakt der Menschen mit russischen Soldaten von diesen Druck auf sie ausgeübt wird, keinesfalls in den Westen zu fliehen.

Für Olena hingegen war von Anfang an klar: Ihre Kinder leben in Wien, es wird also nach Wien gehen. Nur eben über einen Umweg, um mit der gebrechlichen Mutter nicht die Front überqueren zu müssen: Also erst auf die Krim, dann mit dem Bus nach Wladikawkas in Nordossetien, von dort weiter nach Tiflis und per Flugzeug nach Wien.

Bei anderen ging dieser Plan nicht auf. Laut ukrainischen Stellen wurden schon mehr als 1,2 Millionen Menschen gegen ihren Willen nach Russland gebracht. (Stefan Schocher, 25.5.2022)