Zwi Nigal spricht mit der österreichischen Jugendstaatssekretärin Claudia Plakolm.

Foto: Maria Sterkl

Im Wiener Prater war er oft spazieren, als Zwi Nigal noch Hermann Heinz Engel hieß und dort lebte, wo es auch im Sommer regnet. Im zweiten Wiener Bezirk hätte er auch das Gymnasium abschließen sollen, doch mit 15 Jahren stand er als Jude im nationalsozialistischen Wien vor der Entscheidung, ob er flüchtet oder in seiner Geburtsstadt bleibt, wo "das Mindeste, was mir passieren würde, ist, dass man mich zu Tode prügelt".

Er entschied sich für die Flucht nach Palästina. Das taten auch viele andere, doch konnten sie Wien nicht verlassen, weil "die Engländer den Juden, die wenig Geld hatten, die Einreise nach Palästina verweigerten". Doch Zwi Nigal hatte Glück. Der zionistische Jugendverein, bei dem er sich engagierte, verhalf ihm zur Ausreise nach Triest, von dort mit dem Schiff nach Haifa. Seinen Vater sah er nie wieder. Er wurde von den Nazis ermordet. Die Mutter schaffte es nach langen Strapazen ebenfalls nach Palästina.

Zeitzeuge besucht Schulen

Nach Wien kommt der heute 99-Jährige manchmal auf Besuch, er erzählt Schülern dann Geschichten aus seiner Kindheit. "Ich würde gerne schönere Geschichten erzählen", sagt er. Bei seinem letzten Besuch einer Schulklasse in jenem Wiener Gymnasium, aus den man ihn vertrieben hatte, schilderte er den Oberstufenschülern den Tag, als die Familie aus der Wohnung im zweiten Bezirk vertrieben wurde.

Die Geschichte ist schnell erzählt: Ein braver Parteigenosse der Nazis betrat die Wohnung und erklärte sie zu seinem Eigentum. Juden waren rechtlos und hatten sich zu fügen, die Familie stand auf der Straße. Ohne viel Gepäck, denn auch an der Einrichtung hatte der Ariseur Gefallen gefunden. Als Nigal vor drei Jahren in Wien war und diesen Tag vor einer Oberstufenklasse schilderte, da fragte eine Schülerin: "Aber warum haben Sie nicht die Polizei gerufen?" Eine Frage, die Nigal noch heute Verwunderung ins Gesicht zaubert. "Die Schülerin war achtzehn Jahre alt."

Plakolm überreicht Mozartkugeln

Fragen wie diese sind es, die den 99-Jährigen antreiben, weiterhin so viel wie möglich mit jungen Menschen über damals zu sprechen, auch wenn es wehtut. Heute, an einem milden Maitag in Tel Aviv, kommen die Jungen aus Österreich zu ihm. Eine von ihnen ist sogar Politikerin. Jugendstaatssekretärin Claudia Plakolm überreicht Nigal ein Säckchen Mozartkugeln, steckt sie ihm in die Tasche seines Rollators.

Plakolm war von Sonntag bis Dienstag auf Besuch in Israel, traf hier junge Start-up-Unternehmer, österreichische Zivildiener – und eben auch die aus Österreich vertriebenen Überlebenden der Shoah. In einem Kellerlokal in Tel Aviv, den Mitgliedsräumen des Zentralkomitees der Juden aus Österreich in Israel (ZKJÖ), saß sie mit ihnen bei Kaffee und Keksen. "Die Geschichte lebt davon, dass sie weitergetragen wird", sagte Plakolm. Sie sei aber hierhergekommen, um "nicht nur über die Vergangenheit, sondern auch über die Zukunft" zu sprechen.

Jugendaustausch

Und zwar ganz konkret über eine Kooperation mit Israel im Jugendaustausch. Ein entsprechendes Memorandum of Understanding wurde unterzeichnet, um die Vernetzung zwischen österreichischen und israelischen Vereinen zu beleben. Zwischen Israel und Deutschland gibt es bereits regen Austausch, wobei die deutsche Bundesregierung dafür auch entsprechend finanzielle Mittel bereitstellt.

Ob das auch im Falle Österreichs gelingt, wird sich zeigen. Jugendinitiativen, die sich um einen Austausch mit israelischen Gleichgesinnten bewerben wollen, müssen für die Anreise nach Israel selbst aufkommen und den israelischen Partnern den gesamten Aufenthalt in Österreich finanzieren. Plakolm ist zuversichtlich, dass es klappt. "Fast jeder zweite Jugendliche in Österreich ist bei einem Verein engagiert", sagte sie. Von den israelischen Gleichaltrigen könnten sie "viel lernen", vor allem in puncto Start-up-Kultur: "Ich mag die Mentalität der israelischen Jungen: einfach tun, ausprobieren, ohne langfristige Planung."

Nigal blickt in die Zukunft

Es ist eine Mentalität, die auch der antisemitischen Verfolgung geschuldet ist und der Notwendigkeit, sich und andere zu verteidigen. Als Zwi Nigal 18 Jahre alt und in Palästina in relativer Sicherheit war, reiste er erneut ins Kriegsgebiet zurück. Er hatte sich freiwillig gemeldet, in der britischen Armee zu dienen. Mit der Jüdischen Brigade kämpfte er in Nordafrika und Italien gegen die Nazis, nahe Bologna wurde er verwundet. Die Befreiung von den Nazis, das Auftauchen der wenigen überlebenden Juden aus ihren Verstecken, erlebte er nahe Arnoldstein an der italienisch-österreichischen Grenze. Doch in das Land, in dem er geboren wurde, kehrte er damals nicht zurück. Er ging nach Palästina.

Heute blickt Engel mit Stolz auf die Familie, die er in Israel gegründet hat und deren Äste sich immer weiter verzweigen. "Wenn ich alle meine Urenkel sehe, dann sage ich: Das ist meine Rache an den Nazis." (Maria Sterkl aus Tel Aviv, 24.5.2022)