Weltweit wird gegen China protestiert.

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Dolkun Isa, Präsident des Weltkongresses der Uiguren und in Deutschland im Exil lebend, ist von den neuesten Enthüllungen, die auf extrem anschauliche Weise die willkürliche und massenhafte Internierung von Uiguren in der chinesischen Provinz Xinjiang belegen, nicht überrascht. Es sei aber eine wichtige Bestätigung all dessen, was der Weltkongress schon gewusst habe. Vom Westen fordert Isa nun einen Politikwechsel und konkrete Aktionen. Die jetzt veröffentlichten Dokumente würden aber nur einen Bruchteil dessen zeigen, was in Xinjiang geschieht.

STANDARD: Was ist neu an den Xinjiang Police Files, und was hat Sie überrascht?

Isa: So traurig es klingt: Überrascht hat mich nichts. Wir wissen ja von tausenden Menschen aus erster Hand, dass sie den Kontakt zu ihren Familienmitgliedern in Ostturkestan (Xinjiang, Anm.) verloren haben. Die Xinjiang Police Files sind vor allem eine Bestätigung dessen, was wir schon wussten. Trotzdem ist die Veröffentlichung sehr wichtig. Bisher war es schwierig, an gesicherte Informationen zu kommen. Die Akten helfen, Regierungen und Parlamente auf die Gräuel aufmerksam zu machen. Peking wendet sehr viel Geld und Energie auf, um die Situation positiv darzustellen. Dagegen anzukämpfen ist nicht einfach.

STANDARD: Wie hat die uigurische Exilgemeinde auf die Veröffentlichung reagiert?

Isa: Wir sind einerseits froh darüber. Zum einen haben viele konkret erfahren, was mit ihren Familienmitgliedern geschehen ist. Bisher wussten wir ja nur, dass sie verschwunden waren, und wir wussten, dass es die Lager gab. Kaum jemand konnte aber konkret beweisen, dass Verwandte im Lager sind. Jetzt haben wir konkrete Informationen darüber, was mit einzelnen Personen geschehen ist. Diese Bestätigung ist wichtig für viele Uiguren. Andererseits macht es uns natürlich auch unglaublich traurig. Und man darf nicht vergessen: Auch die jetzt veröffentlichten Dokumente zeigen nur einen Bruchteil dessen, was in Xinjiang geschieht.

STANDARD: Gab es schon eine Reaktion von Peking?

Isa: Die Kommunistische Partei streitet nach wie vor alles ab. Auch das ist nicht überraschend. Peking wendet seit Jahren Milliarden US-Dollar auf, um Falschinformationen zu verbreiten.

STANDARD: Was erhoffen Sie sich von dem Besuch der UN-Hochkommissarin Michelle Bachelet in Xinjiang?

Isa: Wir wünschen uns, dass dieser Besuch ohne eine chinesische Agenda stattfindet. Dass er unabhängig und investigativ ist. Das ist aber ein frommer Wunsch, der mit der Realität nichts zu tun hat. Ihr Bericht über Xinjiang wurde bereits vor Monaten angefertigt und veröffentlicht. Die chinesische Regierung hat großen Druck ausgeübt. Wir gehen nicht davon aus, dass sich durch den Besuch etwas ändert und dass der Abschlussbericht am Samstag irgendetwas substanziell Neues enthält. Das ist sehr traurig. Wir brauchen keinen diplomatischen Besuch, wir brauchen eine Untersuchung des Genozids.

STANDARD: Was erwarten Sie sich von westlichen Regierungen?

Isa: Wir machen seit Jahren auf die Situation in Ostturkestan aufmerksam. Die Xinjiang Police Files belegen das nochmals überdeutlich. Es muss jetzt zu einem Politikwechsel und konkreten Aktionen kommen. Immer nur seine "Besorgnis äußern" reicht nicht! Die Europäische Union kann nicht warten, weil jeden Tag dort Menschen sterben. Wir brauchen konkrete politische und wirtschaftliche Sanktionen.

STANDARD: Stichwort Wirtschaft: Was fordern Sie von westlichen Unternehmen?

Isa: Internationale Unternehmen haben auf die Invasion der Ukraine durch Russland sehr schnell reagiert. Das zeigt, was möglich ist. Westliche Unternehmen sollten die Region und China verlassen. China wirft vielleicht keine Bomben, aber tötet seit Jahren ein ganzes Volk.

STANDARD: Was können Einzelne tun?

Isa: Wir können aufhören, chinesische Produkte zu kaufen, und Druck auf Regierungen ausüben. Jeder Einzelne kann die Problematik zudem bei seinen Abgeordneten adressieren und Unternehmen auffordern, das Land zu verlassen. Die Zivilgesellschaft hat durchaus Möglichkeiten. (Philipp Mattheis, 26.5.2022)