Bahia Bakari überlebte als einzige von 153 Personen einen Flugzeugabsturz im Jahr 2009. Ihre Mutter, mit der sie reiste, kam ums Leben.

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Wrackteile von damals auf den Komoren. Erst jetzt kommt es zum Prozess gegen die Fluggesellschaft. Zur Verhandlung in Paris erschien keine Vertretung der Fluglinie Yemenia.

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Sie hatte einen Fensterplatz, neben ihr saß die Mutter. Es war ein Nachtflug nach Moroni, der Hauptstadt der Komoren, doch Bahia Bakari brachte kein Auge zu. In Frankreich aufgewachsen, besuchte die Zwölfjährige in jenem Sommer 2009 erstmals ihr Herkunftsland. Aufgeregt fragte sie sich, wie es wohl sein werde und welche Familienangehörigen sie sehen würde. Nur etwas wäre ihr nie in den Sinn gekommen: die Idee, dass sie in wenigen Minuten ein Wunder erleben würde.

Jetzt, 13 Jahre später, steht die junge Frau in einem Saal des Pariser Justizgebäudes. Sie wirkt natürlich und spontan, sagt, sie müsse die Erinnerungen wie aus einer alten Schachtel holen, obwohl sie alles schon so oft erzählt habe. Etwa, dass die Passagiere in Sanaa, der jemenitischen Hauptstadt, unvorhergesehen das Flugzeug hatten wechseln müssen. In der neuen Maschine roch es nach Toilette, und die Hostessen versuchten mit einem Zitronenspray, die Fliegen zu vertreiben.

Alles schwarz

Beim Anflug von Moroni geriet der Airbus A310 der Gesellschaft Yemenia in Turbulenzen. Doch sei niemand in Panik geraten, erzählte Frau Bakari diese Woche vor Gericht; sie selber habe gedacht, das sei wohl so, wenn man auf einer Insel im Indischen Ozean lande.

Plötzlich ging aber alles blitzschnell. Die Zeugin erinnert sich noch an das Gefühl, sie werde von einer unsichtbaren Kraft nach oben gezerrt und erhalte einen elektrischen Schock. Dann riss der Film. Nichts. Schwarz.

"Als ich wieder aufwachte, blieb es dunkel", erzählt Bahia. Jetzt befand sie sich plötzlich im Meereswasser. "Ich sah drei Wrackteile, schwamm zum größten", erzählt sie. "Ich versuchte, hinaufzuklettern, schaffte es aber nicht; so blieb ich im Wasser und klammerte mich daran fest." Im Dunkeln hörte sie Schreie von Frauen. Es seien wohl deren fünf oder sechs gewesen, schätzt Bahia; aber zu sehen war niemand in dem aufgerauten Meer. Koffer schwammen im Wasser, Flugzeugteile. Es roch nach Kerosin.

Allein im Ozean

Mit der Zeit verstummten die Hilferufe. Aber Bahia weiß heute: "Die Schreie bleiben für immer in mir." Vom Flug und dem Crash ermüdet, hielt sie sich stundenlang an dem Flugzeugteil fest; irgendwann muss sie sogar eingeschlafen sein. Denn als sie zu sich kam, dämmerte der Morgen. Bahia machte eine Küste aus, doch die Dünung war zu stark, um in deren Nähe zu kommen.

Das zwölfjährige Mädchen war mutterseelenallein im Ozean – sprichwörtlich. "Ich dachte viel an meine Mutter. Um mich vor der Einsicht zu schützen, stellte ich mir vor, ich sei aus dem Flugzeug gefallen und meine Mutter setze nun im Flughafen alle Hebel in Bewegung, um Hilfstruppen zu meiner Rettung aufzutreiben."

Stundenlang klammerte sie sich an das Wrackstück. "Ich dachte auch an Haie", sagte sie, heute kann sie darüber lachen. Sie verlor jedes Gefühl für die Zeit. Einmal flog ein Flugzeug über sie hinweg. Dann näherte sich ein kleines Schiff. Ein paar Fischer holten sie aus dem Wasser. Das war elf Stunden nach dem Absturz, wie sie später erfahren sollte.

Bahia war gerettet, doch im Spitalsbett stellte sich nun der Schmerz ein. Am linken Auge war ein Knochen gebrochen, ihre Fußsohlen waren verbrannt, die Haut vom Salz entzündet. Ein Bild zeigt sie mit stark geschwollenem Gesicht. Und vor allem erfuhr Bahia, dass sie an diesem 30. Juni 2009 die einzige Überlebende des Flugs 626 von Paris nach Moroni war. Auch ihre Mutter war, anders als in Bahias Vorstellung, umgekommen.

Prozess nach über einem Jahrzehnt

Dreizehn Jahre sind seither vergangen. So lange dauerte es, bis die französische Justiz die Fakten zusammenhatte. Die jemenitischen Behörden kooperierten kaum, von der Airline Yemenia ist niemand nach Paris gereist, um sich gegen den Vorwurf der fahrlässigen Tötung in dem Strafprozess zu verteidigen, der mit einer Buße von bis zu 225.000 Euro geahndet werden kann. Die zivilrechtlichen Ansprüche auf Schadenersatz werden später behandelt.

Im Publikum schimpfen Angehörige über die "Schrottflugzeuge" der Yemenia. Laut den Flugschreibern wies der Airbus aber keine mechanischen oder Wartungsmängel auf. Die Piloten waren hingegen schlecht ausgebildet. Verstanden sie das rudimentäre Englisch des Kontrollturms nicht, oder wurden sie durch die lückenhafte Pistenbeleuchtung in Moroni verwirrt? Oder reagierten sie schlicht falsch auf die Turbulenzen?

Bahia Bakari erwartet wie alle Angehörigen keine Antworten mehr. "Man hätte von dem Flugunternehmen wenigstens eine Entschuldigung erwarten können", bedauert die Franko-Komorin, die nach ihrer raschen Heilung eine Ausbildung als Immobilienagentin absolviert hat und in einer Pariser Vorstadt lebt.

Trotz allem ist sie froh, dass der Prozess überhaupt stattfindet – damit die Opferfamilien damit abschließen können. Oft kommen ihr vor Gericht die Tränen, aber dann lächelt sie wieder – "um den Angehörigen etwas Mut zu geben", wie sie sagt. "Das hätte meine Mutter von mir gewünscht." Verbergen sich dahinter Schuldgefühle einer Überlebenden? Dass gerade sie, und sie allein, den Absturz überstanden hat, kommt Bahia nicht wie ein Wunder vor. Sie zieht ein anderes, banaleres Wort vor: "Schicksal." (Stefan Brändle, 25.5.2022)

Bericht auf Französisch auf Euronews.
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