Auch Elfriede Jelinek wurde von Ulrike Ottingers stilvoll erfasst.

Foto: Ulrike Ottinger

Nahezu alle Themen, die heutige Debatten bestimmen, finden sich auf die eine oder andere Weise im Werk von Ulrike Ottinger wieder: von Identität, fluider Geschlechtlichkeit, Minoritäten, Postkolonialismus bis hin zu Posthumanismus. Dass sie auf eine mehr als fünfzigjährige Praxis als Filmkünstlerin, Malerin und Fotografin zurückblicken kann, zeigt, wie früh sie mit allem dran war.

Wahrscheinlich hat kaum jemand Queerness so basal und umfassend ins Bild gesetzt wie Ottinger: als eine Entgrenzung auch der filmsprachlichen Form wie überhaupt aller festen Vereinbarungen. Ein Manifest, das zu Die Betörung der blauen Matrosen (1975) entstand, forderte das moralische Engagement des Zuschauers "in Situationen, die jenseits von Gut und Böse liegen, die Fixpunkte und Konstanten seines Weltbildes verschwimmen lassen".

Nach China, Korea und in die Mongolei

Die Reise ist der Antrieb für Ottingers exzentrische Spielfilme wie auch für ihre ethnografischen Erkundungen auf dem Feld des Dokumentarfilms. Doch bevor sich die in Konstanz Geborene auf den Weg machte, nach China, Korea und in die Mongolei, baute sie sich die Fremde aus Reiseberichten, Mythengeschichte und Trivialromanen zusammen. In Die Betörung der blauen Matrosen (1975), nach Laokoon und Söhne (1972/73) die zweite Zusammenarbeit mit der Regisseurin, Schauspielerin, Kostümbildnerin und Gefährtin Tabea Blumenschein, zelebriert ein campes Hawaiimädchen mit Federn, Muscheln und Pfeilen aus dem Winnetou-Merchandise Todesrituale.

Die Tonspur ist eine wilde Sammlung von burmesischen Gesängen, sakralen Gongs, Musette-Walzer und tribalistischem Getrommel. Bei Ottinger sind die Figuren in ständiger Verwandlung, Zeiten werden durchwandert, geografische, mythische und kulturgeschichtliche Räume vermischt. Mitunter steckt das Hybride schon im Titel, so bei Dorian Gray im Spiegel der Boulevardpresse (1984). "Diese mythologischen Sandalen passen nicht!", beschwert sich in Freak Orlando (1981) eine Kundin im Kaufhaus.

Zeichen und Dinge

Surrealismus und Dadaismus haben bei Ottinger Spuren hinterlassen. Im Collageprinzip manifestiert sich der Prozess der Recherche und des Sammelns wie auch die unzähligen Bedeutungsverschiebungen, die Figuren, Zeichen und Dinge erfahren. Im überbordenden Einsatz von Farbe, die sich um die Referenz in der Wirklichkeit nicht schert, scheinen auch Ottingers Anfänge als Malerin durch. In Berlin, wo Ottinger lebt, entstand mit Bildnis einer Trinkerin (1979) ihr wohl bekanntester Film – und gleichzeitig der Auftakt zur "Berlin-Trilogie". Tabea Blumenschein porträtiert darin eine mondäne Frau, die sich auf einer Sightseeingtour des Trinkens wortlos zu Tode säuft.

Enigmatische Trinkerin

Von den am Realismus orientierten Arbeiten ihrer feministischen Mitstreiterinnen setzte sich der Film nicht nur durch übersteuerte Künstlichkeit ab. Auch eine Aussage über den zu lebenden Alltag ließ die enigmatische Trinkerin nicht durchblicken. Schon die Piratengöttin in Madame X – Eine absolute Herrscherin (1977), die in einer über den Bodensee schippernden chinesischen Dschunke eine Frauengruppe unterwirft, war nicht ganz das, was manche sich von weiblicher Selbstermächtigung versprachen.

Das Interesse für Märchen- und Zauberhaftes, für Rituale und Kulturtechniken bestimmt auch das dokumentarische Werk. In Filmen wie China. Die Künste – Der Alltag (1985) und Taiga (1992) entfalten sich die Bilder ohne Erklärungsnot und Eile – und ohne die Repräsentation einer Kultur für sich in Anspruch zu nehmen. "Ich versuche, mit der Kamera einen visuellen Diskurs über die Exotik als Frage des Standpunktes zu führen" – so hat Ottinger einmal ihre filmische Begegnung mit dem Fremden erklärt.

Die Antithese

Ein wiederkehrendes Motiv ist das Verhältnis von Tradition und Traditionsverlust, historischer Kontinuität und gewaltsamem Bruch, und – so heißt es in Die koreanische Hochzeitstruhe (2008) – wie das Alte im Neuen und das Neue im Alten zum Vorschein kommt. Zu einer Gegenwart, die sich wieder verstärkt auf Grenzziehungen fixiert, ist das in alle Richtungen sich entfaltende Werk Ottingers die bildgewordene Antithese. Zum 80. Geburtstag der Kinopionierin lässt es sich im Rahmen einer Werkschau nun in seiner Vielfalt bestaunen.(Esther Buss, 27.5.2022)