Londons neueste Pilgerstätte liegt zwischen einem Park, einer Recycling-Sammelstelle und Luxusappartements. Die Adresse Pudding Mill Lane beinhaltet, je nach Interpretation, die Anspielung auf eine frühere Wassermühle, die einer süßen Nachspeise glich, oder auf den mittelalterlichen Begriff für tierische Eingeweide, die an dieser Stelle weiterverarbeitet wurden.

Jahrhundertelang galt der Londoner Osten, das East End, als Synonym für die Slums der Weltstadt, als Abgrund der Stadt, Kloake wie Sündenpfuhl gleichermaßen. Hingegen wurde das West End gleichgesetzt mit der Glitzerwelt von Musik, Theater und Musicals. Im dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts muss in den Osten reisen, wer die jüngste Attraktion des Showbusiness live erleben will: Am Donnerstagabend stieg in der eigens erbauten Abba Arena die Premiere für das beziehungsreich "Voyage", also "Reise" genannte Programm der schwedischen Superstars – ab Freitag dann kommen die zahlenden Gäste.

Zurück in die Zukunft: "Abbatare" machen das Showerlebnis möglich.
Foto: Industrial Light & Magic / Zeljko Vukovic

Erster Liveauftritt seit 40 Jahren

Tatsächlich haben Agnetha Fältskog, Anni-Frid Lyngstad, Björn Ulvaeus und Benny Andersson eine einzigartige Reise absolviert, seit sie vor 50 Jahren erstmals gemeinsam eine Platte aufnahmen. Bis zum Durchbruch beim Eurovision Song Contest 1974 mit "Waterloo" gab es eine Durststrecke zu überwinden, danach war kein Halten mehr: weltweiter Erfolg, besonders in Deutschland und Australien, mit Hits wie "Money, Money, Money", "Dancing Queen" und "The Winner Takes It All". Vor 40 Jahren kam das Ende, seither hat das Quartett nicht mehr gemeinsam live auf der Bühne agiert.

Das wird auch so bleiben, schließlich sind Popshows Knochenarbeit, und die fällt Menschen im Alter zwischen 72 und 77 Jahren nicht mehr so leicht. In London stehen deshalb zehn etwas jüngere Musiker als Begleitband auf der Bühne; das namensgebende Kleeblatt hingegen macht nur elektronisch mit, als Avatare oder, wie es im fröhlichen Marketing-Jargon heißt, "Abbatare". Die harte Arbeit haben die vier schon im vergangenen Jahr geleistet, als sie wochenlang 22 ihrer Lieder live sangen und dabei ihre altersgemäß ein wenig reduzierten Bewegungen ausübten, verkabelt und gefilmt von 160 Kameras. Das entstandene Produkt haben Techies mit den jugendlichen Gesichtern des Quartetts von 1979 versehen und zu etwas verarbeitet, was den Beteuerungen von Abbas PR-Armee zufolge viel toller ist als alle bisher bekannten Hologrammprojekte.

40 Jahre Hits der schwedischen Popband.
Universal Music Austria

Abba-Historie

Ohne die Anwesenheit ihrer Idole – kann denn da ein Funke überspringen auf die bis zu 3.000 Begeisterten, die von Freitag an teils zweimal täglich das Hightech-Popevent erleben? Carl Magnus Palm hat daran keinen Zweifel. Der Mann, der sich ohne Anflug von Ironie "Abba-Historiker" nennt, durfte zu Wochenbeginn einer Probevorstellung beiwohnen. "Da haben die Leute getanzt und geklatscht, das war wie eine große Party da drin."

Wir trafen Palm in London bei der Vorstellung seines jüngsten Buches "Abba at 50", das im September auf Englisch erscheint – eines von zwei Werken, die in diesem Jahr auf den Markt kommen. Achtmal hat der Schwede seine 30 Jahre währende Beschäftigung mit seinen berühmten Landsleuten bereits zwischen Buchdeckeln verewigt, hält Vorträge und Lesungen, spricht vor Lyrikfachleuten und Hyperfans.

Palms ebenso nüchtern wie anschaulich geschriebenes Buch – keine der sonst üblichen öligen Idolanbetungen – beschreibt die Gegenreaktion der je zwei Frauen und Männer auf das hochpolitisierte Klima im Schweden, ja Westeuropa der 1970er-Jahre. "Dagegen wehrten sie sich, wollten über individuelle Emotionen reden" – längst bestimmt dieses Gefühl den Zeitgeist einer atomisierten Gesellschaft. Und Abbas Musik bleibt erfolgreich, weil die Band "die Melodie in den Mittelpunkt" stelle, anders als vieles, was heute neu auf den Markt kommt.

Von links: Björn Ulvaeus, Agnetha Faltskog, Anni-Frid Lyngstad und Benny Andersson – Abba bei der Eröffnung der "Voyage"-Show in London.
Foto: EPA / TOLGA AKMEN

Legendenstatus

Furchtbar reich werde er nicht mit diesem Vollzeitjob als Abba-Historiker, berichtet Palm, "aber für die Miete reicht es". Die vier Menschen hingegen, denen sein berufliches Interesse gilt, seien allesamt "sehr, sehr reich", sagt der Autor und nennt dreistellige Millionensummen – womit die Frage beantwortet ist, ob das Quartett, das sich sympathischerweise vier Jahrzehnte lang dem unter Popmusikern so beliebten Comeback verweigerte, aus Gründen der Alters- und Erbenversorgung dem neuen Millionenprojekt zustimmte. Nein, darum gehe es nicht, ist sich Palm sicher. Schon eher spiele dabei eine Verewigung der legendären Melodien eine Rolle: Die Show könne auch dann noch spielen, "wenn die vier nicht mehr unter uns sind".

Na, na, na, ganz so weit sind wir aber noch nicht. Einstweilen erleben die Superstars den Trubel als "sehr emotionalen Moment", hat Ulvaeus englischen Medien berichtet. Pläne für ein neues Album gebe es nicht, für gemeinsame Auftritte schon gar nicht. Wer also Abbas Musik nicht nur im heimischen Wohnzimmer genießen will, muss sich auf die Voyage machen in die Pudding Mill Lane, zum neuesten Kulturtempel der nimmersatten Musikmetropole London. (Sebastian Borger aus London, 27.5.2022)