Am See Nutenvut in Keperveem im Nordosten Russlands rücken die Bäume bereits vereinzelt vor.
Foto: AWI/Stefan Kruse

Nicht ganz überraschend sind die Entwicklungen, der die arktische Flora seit einiger Zeit unterworfen ist: Aufgrund der Erderwärmung verstärkt sich vor allem in der Tundra das Pflanzenwachstum. Der dahinterstehende Mechanismus: Aufgrund der Kälte dominieren in arktischen Regionen niedrige Wuchsformen wie Gräser und Zwergsträucher. Indem sie nah am Boden bleiben, nutzen die Pflanzen die dort ein bisschen wärmere Luft und vermeiden es, viel Angriffsfläche für den eisigen Wind zu bieten. Steigen die Temperaturen jedoch, können sich auch die Pflanzen weiter in die Höhe wagen. Das belegte eine 2018 herausgebrachte "Nature"-Studie.

Eine aktuelle Untersuchung prophezeit nun sogar das mögliche Ende der Tundra in Sibirien. Da die Temperaturen in der Arktis rasant steigen, verschiebt sich die Baumgrenze von Lärchenwäldern immer weiter nach Norden und verdrängt die weiten Tundraflächen, wie Forschende des Bremerhavener Alfred-Wegener-Instituts (AWI) und der Uni Potsdam im Fachblatt "eLife" zeigen konnten.

Dramatischer Trend

Die durchschnittliche Lufttemperatur im hohen Norden ist in den letzten 50 Jahren um mehr als zwei Grad Celsius gestiegen, also deutlich stärker als in anderen Regionen der Welt. Der Trend wird sich fortsetzen, sind Klimaforschende überzeugt. Selbst bei ambitionierten Maßnahmen zur Treibhausgasreduktion könnte die weitere arktische Erwärmung bis zum Ende des Jahrhunderts auf knapp unter zwei Grad Celsius begrenzt werden. Bleiben die Emissionen sehr hoch, droht laut Modellprognosen bis 2100 eine dramatische Erhöhung der durchschnittlichen Sommertemperaturen in der Arktis um 14 Grad Celsius über dem heutigen Wert.

"Für den Arktischen Ozean und das Meereis wird die aktuelle und künftige Erwärmung erhebliche Konsequenzen haben", sagt Ulrike Herzschuh vom Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI). "Aber auch an Land wird sich die Umwelt drastisch verändern. Die weiten arktischen Tundraflächen in Sibirien und Nordamerika werden massiv zurückgehen, weil sich die Baumgrenze aktuell langsam und in naher Zukunft sehr schnell nach Norden verschiebt." Im schlimmsten Fall werde die Tundra bis Mitte des Jahrtausends nahezu vollständig verschwinden, so die Forscherin.

Offene Lärchenwälder auf der Taimyrhalbinsel. Forschende bezeichnen diese Zone als Baumgrenzregion. Sie reicht von etwas dichteren Wäldern im Süden bis in den Norden, wo die Bäume – zumindest vorerst noch – nur ganz vereinzelt stehen.
Foto: AWI/Stefan Kruse

Wie kann man die Tundra noch retten

Im Rahmen ihrer Studie haben die Wissenschafterinnen und Wissenschafter diesen Prozess für die sibirische Tundra im nordöstlichen Russland im Modell simuliert. Im Zentrum stand dabei die Frage, welchen Emissionspfad die Menschheit beschreiten muss, um zumindest Teile der Tundra als Refugium für Tiere und Pflanzen sowie für die Kultur und traditionelle Umweltbeziehungen indigener Völker zu retten.

Die Tundra ist eine besondere Vergesellschaftung von Pflanzen, von denen ein Zwanzigstel endemisch ist, also ausschließlich in der Arktis vorkommt. Typische Arten sind die Weiße Silberwurz, Arktischer Mohn und Zwergsträucher wie Weiden und Birken, die sich dadurch auszeichnen, dass sie sich an die harschen Bedingungen mit nur kurzen Sommern und langen Wintern angepasst haben. Die Tundra beherbergt auch einzigartige Tiere wie Rentiere, Lemminge und Insekten wie die Arktische Hummel.

Berechnete Baumwanderung

Für ihre Simulation nutzten Herzschuh und Stefan Kruse das AWI-Vegetationsmodell Lavesi. "Das Besondere an Lavesi ist, dass wir die gesamte Baumgrenze auf der Ebene von Individuen, also einzelnen Bäumen darstellen können", erklärt Kruse. "Das Modell bildet dabei den kompletten Lebenszyklus sibirischer Lärchen am Übergang zur Tundra ab – von der Samenproduktion und Samenverbreitung über die Keimung bis hin zum vollständigen Wachstum des Baums. So können wir das Voranschreiten der Baumgrenze in einem immer wärmeren Klima sehr realistisch berechnen."

Die Ergebnisse sprechen eine deutliche Sprache: Mit einer Geschwindigkeit von bis zu 30 Kilometern pro Jahrzehnt breitet sich der Lärchenwald nach Norden hin aus. Die Tundraflächen, die sich wegen des angrenzenden Arktischen Ozeans nicht in kältere Regionen verschieben können, schrumpfen mehr und mehr zusammen. Weil ein Baum nicht mobil ist und mit seinen Samen nur einen begrenzten Ausbreitungsradius hat, hinkt die Vegetation der Erwärmung zeitlich zunächst stark hinterher, holt dann aber wieder auf.

Irreversibler Prozess

Bis Mitte des Jahrtausends sind dann in den meisten Szenarien nur noch knapp sechs Prozent der heutigen Tundrafläche übrig. Nur mit ambitionierten Maßnahmen zur Reduktion von Treibhausgasen bleiben noch etwa 30 Prozent übrig. Der ehemals 4.000 Kilometer lange durchgehende Tundragürtel in Sibirien ist dann auf zwei 2.500 Kilometer voneinander entfernte Flächen auf der Taimyrhalbinsel im Westen und Tschukotka im Osten geschrumpft. Interessanterweise gibt der Wald die ehemaligen Tundragebiete auch nicht wieder komplett frei, selbst wenn sich die Atmosphäre im Laufe des Jahrtausends wieder abkühlt. (red, 27.5.2022)