Am 27. Oktober 1922 hatte Benito Mussolini seine faschistischen Verbände auf den "Marsch auf Rom" geschickt; drei Tage später, am 30. Oktober, wurde er von König Vittorio Emanuele III. zum neuen Ministerpräsidenten Italiens ernannt. Nach der Machtergreifung verwandelte der "Duce" Italien in eine totalitäre Diktatur, verbündete sich mit Adolf Hitler, verlor mit Nazideutschland den Krieg. Und nun, hundert Jahre nach dem "Marsch auf Rom", führt in Italien erstmals wieder eine Partei die Umfragen an, deren ideelle Wurzeln im "ventennio" liegen, also in den zwei Jahrzehnten der Mussolini-Diktatur.

Schon nächstes Jahr Ministerpräsidentin? Giorgia Meloni mit Matteo Salvini (links) und Silvio Berlusconi.
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Die postfaschistischen Fratelli d'Italia (Brüder Italiens, FDI) von Giorgia Meloni kommen in einer von der Zeitung "La Repubblica" am Freitag publizierten Befragung auf 22,3 Prozent der Stimmen und liegen damit erstmals auf Platz eins. An zweiter Stelle folgt der sozialdemokratische Partito Democratico (Demokratische Partei, PD) mit 21 Prozent und auf Platz drei die rechtspopulistische Lega von Ex-Innenminister Matteo Salvini mit 15,6 Prozent.

Natürlich handelt es sich bloß um eine Umfrage und eine Momentaufnahme, und bis zu den Parlamentswahlen im März 2023 können sich die Werte noch ändern. Aber der Trend ist klar: Giorgia Melonis Fratelli d'Italia sind seit Monaten im Höhenflug und steigen in der Wählergunst in ungeahnte Sphären, während der direkte Konkurrent im Rechtslager, der oft rüpelhafte Salvini, immer mehr an Boden verliert und die übrigen Parteien mehr oder weniger stagnieren.

Wie "faschistisch" sind die Fratelli?

Natürlich kann und muss man sich fragen, wie "faschistisch" Giorgia Meloni und ihre Brüder Italiens tatsächlich sind. Fest steht immerhin, dass es sich bei der Partei um eine Nachfolgeorganisation des postfaschistischen Movimento Sociale Italiano (MSI) handelt, der unmittelbar nach dem Krieg von alten Mussolini-Verehrern gegründet worden war.

Im Parteilogo der Fratelli d'Italia ist auch noch immer die Flamme auf dem Grab des Duce zu sehen, die schon das Parteiemblem des MSI dominiert hatte. Und fest steht auch, dass sich in Melonis Partei bis heute unzählige hartgesottene Mussolini-Nostalgiker tummeln – und zwar nicht nur im Wahlvolk, sondern auch unter den Amtsträgern: Immer wieder machen FDI-Parlamentarier, FDI-Bürgermeister und FDI-Parteikader Schlagzeilen mit dem "saluto romano" – dem Faschistengruß mit steil ausgestrecktem Arm – oder mit Lobeshymnen auf den Duce und manchmal sogar auf Hitler.

Giorgia Meloni selbst kann dagegen kaum als harte Faschistin bezeichnet werden. Die 45-jährige Römerin aus dem ehemaligen Arbeiterviertel Garbatella war zwar schon im Alter von 15 Jahren der Fronte della Gioventù ("Jugendfront") des MSI beigetreten, aber inzwischen steht sie einigermaßen klar auf dem Boden des demokratischen Rechtsstaats und gibt sich als moderne und emanzipierte Frau und Mutter, die mit den ewiggestrigen Mussolini-Anhängern und den neofaschistischen Schlägern in ihrer Partei wenig gemein hat.

Wer aller Platz hat – und wer nicht

Aber so richtig distanzieren will sie sich dennoch nicht: "Bei den Fratelli d'Italia gibt es keinen Platz für Rassisten, Antisemiten und Neonazis", erklärte sie unlängst. In der Aufzählung der Unerwünschten fehlen nicht zufällig die Faschisten, die offenbar sehr wohl Platz haben. Diese empfindet die Parteichefin zwar gelegentlich als etwas genierlich, aber auf deren (viele) Stimmen möchte sie dennoch ungern verzichten.

Italien hat unter Mario Draghi seit seinem Amtsantritt als parteifreier Regierungschef vor 15 Monaten sehr viel an internationalem Ansehen und Vertrauen zurückgewonnen. Aber parallel dazu existiert ein zweites Italien mit einer Parteipolitik, die noch von Faschisten und Kommunisten bevölkert wird, in der der frühere Skandalpremier Silvio Berlusconi weiterhin ein wichtiges Wort mitredet und wo die stärkste Regierungspartei, die Fünf-Sterne-Bewegung, ideologisch derart verbohrt ist, dass sie, obwohl die Hauptstadt seit Jahren im Müll versinkt, auf die Barrikaden steigt gegen eine geplante Müllverbrennungsanlage in Rom.

Und dieses andere Italien, das komplett aus der Zeit gefallen scheint, könnte schon in zehn Monaten, wenn Mario Draghis Amtszeit als Premier abläuft, wieder das Kommando übernehmen. Womöglich mit der Postfaschistin Meloni als erster Ministerpräsidentin Italiens und mit Salvini und Berlusconi als Koalitionspartnern. (Dominik Straub aus Rom, 29.5.2022)