Patchworkfamilie aus korrupten Waisenkindern: "Broker" von Hirokazu Koreeda.

Foto: Filmfestival Cannes

Politik zwischen Satire und Glamourfaktor

Bei der Eröffnung des Festivals von Cannes pochte Wolodymyr Selenskyj noch darauf, dass das Kino Position beziehen müsse. Zwölf Tage später wirkte die Livezuschaltung des ukrainischen Präsidenten nur mehr wie ein PR-Coup, mit dem das Großereignis seine Führungsrolle unterstreichen will.

Der Wettkampf um die Goldene Palme, mit ukrainischen Fahnenfarben geschmückte Gogo-Tänzerinnen auf Partys oder das Gejammer der Industrie über Besucherzahlen – all das dreht sich auf den Showbühnen von Cannes im Kreis. Die Fixierung auf Aufmerksamkeit versinnbildlichte heuer nichts besser als die Kampfjets, die zu Ehren von Tom Cruise über die Croisette flogen und manche Besucher vor Angst unter Tischen in Deckung gehen ließ.

Auf Sensibilitäten wird auch im Programm nur bedingt geachtet. Festivaldirektor Thierry Fremaux hat die 75. Ausgabe, die hinsichtlich des Rummels an präpandemische Zeiten anschloss, mit so vielen Namen vollgepfercht, dass es schwerfällt, klare Haltungen auszumachen. Ein Dokumentarfilm wie Mariupolis 2 des in der Ukraine getöteten Mantas Kvedaravičius, der eher konfus wirkende Kriegsimpressionen zeigt, steht neben Tchaikovsky's Wife des Russen Kirill Serebrennikow, der in Interviews die Unabhängigkeit der russischen Kultur betonte.

Groteske und Märchen

Godards Diktum, dass es nicht um politische Filme geht, sondern darum, Filme politisch zu machen, wurde am ehesten durch eine Handvoll satirische Arbeiten eingelöst. Ruben Östlunds Triangle of Sadness hält der zynischen Abgehobenheit von Superreichen den Spiegel der Groteske vor, die ihren Höhepunkt in einer Brechorgien-Slapstick-Passage auf einer Luxusyacht findet. Mit feinerer Klinge arbeitet der Portugiese João Pedro Rodrigues in seinem artifiziellen Märchen Fogo-Fatuo, das Umweltzerstörung, Homosexualität und Rassismus in einer Romanze unter Feuerwehrleuten zusammenführt.

Im Wettbewerb bildete der Katalane Albert Serra den Antipoden. In seinem auf einem Inselstaat angesiedelten Drama Pacifiction verweigert er bekannte narrative Muster von Plausibilität. Benoît Magimel spielt in der Postkolonialismusstudie einen französischen Regierungsbeamten, der sich in paranoiden Ideen verliert. Serras Film erforscht das lähmende Ungefähre der Politik – zwischen langen Monologen, Hahnenkämpfen oder Surfen auf Riesenwellen.

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Michelle Williams als Bildhauerin in Kelly Reichardts Kunstkomödie "Showing Up".
Foto: Filmfestival Cannes

Solider Wettbewerb mit wenigen Überraschungen

In den letzten Jahren haben Cannes-Premieren einen langen Atem bewiesen, Filme wie Parasite von Bong Joon-ho und Ryūsuke Hamaguchis Drive My Car hatten sich von der Croisette aus ihren Schwung bis zu den Oscars geholt. Was dieses Jahr anbelangt, ist Zurückhaltung geboten: Der Wettbewerb war solide, wirklich Überraschendes insgesamt rar gesät.

Man begnügte sich lieber mit Variationen auf Bewährtes. Der Koreaner Park Chan-wook präsentierte mit Decision to Leave einen mit kühler Eleganz komponierten Film noir, der mit romantischen Projektionen spielt. Der japanische Cannes-Sieger Hirokazu Kore-eda (Shoplifters) drehte seinen Broker mit Schauspielstars wie Song Kang-ho in Korea, bewegt sich mit seiner Kleinganoven-Tragikomödie um zwei Kinderhändler und ihre Ersatzfamilie aber auch auf vertrautem Terrain.

Bodyhorror für Kenner

Sogar David Cronenbergs Rückkehr zum Bodyhorror fiel mit Crimes of the Future weniger provokant als erwartet aus – vielleicht, weil man seinen trockenen Witz und Sinn für irritierend beiläufige Zukunftsprognosen schon allzu gut kennt. Das spricht nicht per se gegen die Filme, aber doch gegen den Traditionalismus in Cannes, in dem sich die Tore der Erneuerung im Festivalpalast nur knarrend öffnen.

Zu den Neulingen, die noch aufhorchen ließen, gehörte der Iraner Saeed Roustaee, der mit Leila's Brothers ein Familiendrama von Tschechow'schen Dimensionen vorlegte. Es geht um die Suche nach Prestige und wirtschaftlichen Aufstieg – und darum, dass sich das Patriarchat nicht so leicht stürzen lässt. Was die Preise anbelangt, die Samstagabend vergeben werden, könnten zwei Filme das Feld von hinten aufrollen. Close vom flämische Regisseur Lukas Dhont (Girl) ist ein leises, bewegendes Melodram über zwei Zwölfjährige, die seit der Kindheit eine unüblich intime Freundschaft verbindet. Im heteronormativen Umfeld der Schule beginnen sie sich zu entfernen, was zur Katastrophe führt.

Die US-Regisseurin Kelly Reichardt begeisterte am Ende noch mit Showing Up, einer Milieustudie über die profanen Herausforderungen bei der Kunstproduktion. Michelle Williams beeindruckt als missmutige Bildhauerin, die immer wieder aus den Vorbereitungen für eine Ausstellung gerissen wird. Reichardt verbindet lakonischem Humor mit viel Empathie für ihre Figuren; auch solche erzählerische Sorgfalt gehört belohnt. (Dominik Kamalzadeh aus Cannes, 27.5.2022)