Ich habe gehört, dass im Inneren des Wagens sich furchtbare Szenen abgespielt haben müssen. Die Häftlinge merkten natürlich, was mit ihnen geschehen sollte, und haben entsprechend laut oder weniger laut reagiert. Man kann sich vorstellen, dass die Opfer sich in ihrer Verzweiflung aneinanderklammerten und so in den Tod gingen." So schilderte der Wiener Josef Wendl, der Gaswagenfahrer von Maly Trostinec, jene Einsätze im grauen Lastwagen, in dem er hunderte Juden und Jüdinnen in Weißrussland ermordet hatte. Er beschrieb auch, wie das Gas mittels Schlauch in das Innere des Wagens geleitet wurde und wie er dann den Motor laufen ließ. Er habe sich zuerst auch geweigert, den Wagen zu fahren. Jedoch nur, weil er für den Fünftonner keinen Führerschein besaß.

Der Burgschauspieler Otto Hartmann wurde 1947 wegen Denunziation zu schwerem Kerker verurteilt. Nach 1955 wäre er in Österreich deswegen womöglich nicht mal angeklagt worden.
Foto: Fibinger, Max / ÖNB-Bildarchiv /

Seine Aussagen stammen aus dem Prozess gegen Georg Heuser im Jahr 1962, der wegen der Teilnahme an Massenerschießungen in Minsk zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt wurde. Das war allerdings in Koblenz. Der gelernte Friseur und spätere SS-Mann Wendl stand acht Jahre später in seiner Heimatstadt Wien selbst vor Gericht. Er wurde freigesprochen, obwohl weder er noch die Geschworenen Zweifel daran hatten, dass er mindestens 240 Menschen getötet hatte. Doch die Geschworenen beantworteten am Ende der Verhandlung nicht nur zwei Fragen zur Schuld Wendls mit Ja, sondern bejahten auch eine Zusatzfrage, die darauf hinauslief, dass Wendl unter Befehlsnotstand gehandelt habe. Die Geschworenen hatten zunächst nicht einmal gewusst, dass sie Wendl mit der Bejahung der Frage freisprachen.

Verschlafene Justiz

Der Prozess gegen Wendl war keine Ausnahme. Während vor den Volksgerichten von 1945 bis 1955 noch viele NS-Verbrecher verurteilt wurden, tat sich später sehr wenig. Eine Zeit, in der noch viele Täter sowie Zeuginnen und Zeugen lebten, wurde von der österreichischen Justiz verschlafen. Die Volksgerichtsbarkeit wurde nach dem Abzug der Besatzer von Geschworenengerichten abgelöst. Doch diese seien "für NS-Verbrechen nicht geeignet", glaubt die Historikerin Claudia Kuretsidis-Haider von der 1998 gegründeten Zentrale österreichische Forschungsstelle Nachkriegsjustiz (FStN).

Simon Wiesenthal sah den Grund für das Versagen der Verfolgung von Nazi-Kriegsverbrechern bei den Geschworenen, weiß Kuretsidis-Haider, "doch ich glaube, ein Richter muss die Belehrung der Geschworenen auch so durchführen, dass diese die Rechtsmaterie verstehen. Aber natürlich waren auch Richter und Schöffen nicht dagegen gefeit, früher selbst Nazis gewesen zu sein." Auch wenn es in Österreich – offiziell – nach 1945 nicht möglich war, als ehemaliges NSDAP-Mitglied Richter zu werden, war die Nachkriegsjustiz belastet, was wohl Grund für die vielen milden Urteile war. "Aber es fehlte auch über viele Jahrzehnte der politische Wille", sagt Kuretsidis-Haider.

Eine weitere Erleichterung für NS-Verbrecher war die Regelung, dass jungen Straftätern, die zum Tatzeitpunkt unter 21 waren, auch bei Mord nur eine Höchststrafe von 20 Jahren Haft drohte. Und diese verjährte in Österreich – anders als in Deutschland – nach 20 Jahren. Das hieß, dass man nach 1965 niemanden mehr belangen konnte, der als junger Mann Kriegsverbrechen begangen hatte. Das ist genau jene Generation, von der in Deutschland bis in die Gegenwart noch Angeklagte vor Gericht kommen. Ältere leben kaum mehr. 2015 fiel diese Sonderverjährung – auch durch Impulse der "Arbeitsgruppe zur Ausforschung von NS-TäterInnen", die von der FStN und dem Justizministerium 2010 eingesetzt worden war.

Ein Blick auf die abgeschlossenen Urteile wegen NS-Tötungsverbrechen in Österreich spricht Bände. Von 1945 bis 1955 wurden 511 solcher Prozesse mit einem Urteil abgeschlossen. Danach fällten ordentliche Gerichte nur mehr 42 Urteile, 22 davon waren Freisprüche. Das letzte Urteil in Österreich gab es 1975. Allerdings wurden über 1000 Untersuchungsverfahren bis in die Gegenwart von Staatsanwaltschaften aus ganz Österreich eingeleitet, führten aber zu keiner Anklage. Alle diese Zahlen und Details zu den Fällen stehen im Abschlussbericht der Arbeitsgruppe. Für diese arbeiteten sich Kuretsidis-Haider, ihr Historikerkollege Winfried Garscha und der Politologe Siegfried Sanwald über Jahre durch mehrere Laufmeter von alten Akten. Der Bericht wurde vor wenigen Tagen im Justizministerium präsentiert – DER STANDARD berichtete.

Politisches Signal

Die Arbeitsgruppe wollte durch die Aufarbeitung der Versäumnisse der Nachkriegsjustiz einerseits "ein politisches Signal der Republik Österreich" senden. Außerdem prüfte sie bei 526 Volksgerichtssachen, ob Verfahren zu NS-Tötungsdelikten, die abgebrochen oder zurückgelegt wurden, noch fortgesetzt werden könnten. Weiters sah man alle Akten zu Morden in den Landesarchiven und Gerichten durch, um durch Geburtsdaten der Beschuldigten vielleicht sogar unentdeckte NS-Fälle zu finden. Fälle von Beteiligung an Tötungen oder Denunziationen, die zum Tod der Denunzierten geführt hatten, wurden wegen Verjährung aussortiert – ein besonders prominenter Name war hier der Burgschauspieler Otto Hartmann.

Nach 1975 ist es nur noch einmal zu einer Anklageerhebung wegen eines NS-Tötungsdelikts in Österreich gekommen, und zwar gegen den Gerichtsgutachter und Euthanasiearzt Heinrich Gross. Die Verhandlung wurde aber 2000 wegen angeblicher Demenz vertagt und nie wiederaufgenommen. Der angeblich demente Gross gab abseits der Verhandlung munter Interviews in einem Kaffeehaus.

"Ich glaube, dass ich echte Demenz erkenne", sagt Sanwald, der seit 20 Jahren im Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW) halbtags Akten studiert und in seinem zweiten Beruf ebenfalls gegen das Vergessen kämpft: "In Aufzeichnungen zu seinen Interviews wirkte Gross sehr klar." Sanwald arbeitet in einem Betreuungszentrum mit Demenzerkrankten. Insgesamt befasste sich die Arbeitsgruppe mit über 1000 Fällen. Als Budget stellte der Staat für mehrere Jahre insgesamt 27.000 Euro zur Verfügung. Man übergab der Justiz 200 Namen, bei denen Einleitung oder Wiederaufnahme eines Verfahrens möglich schien. Die Justiz stellte daraufhin Meldeanfragen an das Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung. Nur bei acht Personen konnte der Aufenthaltsort ermittelt werden.

Vor allem im Umfeld der "Aktion Reinhardt", das war der Tarnname der Nazis für die Ermordung von fast zwei Millionen Juden und Jüdinnen in Ostpolen, recherchierte die Gruppe. Das Verfahren wurde trotz 64 Angeklagter in den 1970er-Jahren eingestellt. Gefragt, wie es ihnen persönlich damit ergehe, dass Recht nicht immer Gerechtigkeit bedeuten müsse, erzählt Kuretsidis-Haider von Fällen, "wo ich mit den Zähnen geknirscht habe". Sanwald beschreibt Tage in Gerichtsarchiven, "wo ich nachher bewusst nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahre, sondern lange spazieren gehe. Man sieht in solchen Akten ja auch Fotos von den Verbrechen."

Der Fall Kupferblum

So milde die österreichische Nachkriegsjustiz mit NS-Verbrechern umging, so ungerecht ging sie mitunter mit Juden um. Das zeigte die Affäre um Gerszon Kupferblum, der in den 1950er-Jahren aufgrund antisemitischer Gutachten verurteilt und nie rehabilitiert wurde. Nachdem STANDARD-Herausgeber Oscar Bronner bei der Eröffnung der Ausstellung über den deutschen Staatsanwalt Fritz Bauer im Wiener Justizpalast an Kupferblum erinnerte (Die Affäre Kupferblum: Der lange Schatten der NS-Zeit in Österreichs Justiz), prüft nun die Sektion V für Einzelstrafsachen im Justizministerium den Fall. "Auch in Österreich war die Justiz nach den dunklen Jahren des Nationalsozialismus nicht frei von einschlägigem Gedankengut. Ein Symptom davon mag möglicherweise der Fall Kupferblum sein, bei dem sich gezeigt haben könnte, zu welchen massiven Problemen und Rechtsverzerrungen das führen kann", sagt dazu Justizministerin Alma Zadić.

Umso wichtiger sei für sie die Erforschung unserer Geschichte, denn: "Wenn wir die richtigen Lehren aus der Geschichte ziehen, kann uns das dabei helfen, Fehler der Vergangenheit zu vermeiden." (Colette M. Schmidt, 28.5.2022)