Die Designerin Megumi Ito beim Blick in die Kamera.
Foto: Mafalda Rakoš

Charmant mag ein aus der Zeit gefallenes Wort sein. Aber kaum eines trifft die Atmosphäre im Franziskanerviertel in der Wiener Innenstadt treffender. Ein gepflasterter Platz, der seinesgleichen lange suchen lässt. Der Mosesbrunnen, in dem ein Löwenmaul sprudelndes Wasser speit, das Kloster der Franziskanermönche mit seiner Kirche, ein Blumengeschäft, das vor vielen Jahren als Weinstube diente, eine Putzerei, ein sehr kleines Café, freilich ein Gasthaus und die Aussicht auf diverse prächtige Gebäude.

Eines davon gehörte einst dem Schauspieler Curd Jürgens, der auch "normannischer Kleiderschrank" genannt wurde. Der Künstler Jean Cocteau soll ebenso hier geweilt haben, und Opernsängerin Anna Netrebko war bis vor kurzem regelmäßig mit vollen Einkaufssackerln auf dem Weg nach Hause zu sehen. Dabei geht es alles andere als innerstädtisch-schnöselig zu. Nachbarschaftlich-grätzelig trifft es besser.

Auch die Leuchtendesignerin Megumi Ito kommt hier oft vorbei, so wie die Tauben fütternde ältere Dame im Barbie-Look, ein Bub mit seinem Doodle-Pudel, ein sehr alter, Englisch sprechender Herr, meist mit einer Flasche Wein unter dem Arm, und natürlich die Mönche in ihrem braunen Habit samt Schnur um den Bauch. Auch Megumi Ito erzählt, dass sie das Leben hier wie in einem Dorf wahrnehme.

Helle Pawlatsche

Die Pawlatsche, die zum Eingang ihrer verwinkelten Wohnung im ersten Wiener Bezirk führt.
Foto: Mafalda Rakoš

Das Haus, in dem sie wohnt, liegt ganz in der Nähe des Franziskanerplatzes, ein Vorgänger des Gebäudes wurde bereits 1375 urkundlich erwähnt. Auf dem Weg dorthin kommt man vorbei an einer alten Buchhandlung und einer Herrensauna.

Itos Wohnung im dritten Stock erreicht man über eine helle Pawlatsche, einen verglasten Gang, der im Innenhof am Haus pickt und Stock für Stock die einzelnen Wohnungen miteinander verbindet. Ihr Gang ist mit Geranien geschmückt.

Am Ende davon, neben dem eigentlichen Eingang zur Wohnung thront der rot-blaue Stuhl von Gerrit Rietveld, eine Möbelikone aus dem Jahre 1918. "Dies ist mein absoluter Lieblingsort", sagt die 51-jährige Ito, die hier seit fünf Jahren zur Miete wohnt. "An diesem Platz mit all seinem Licht fühle ich mich wie im Himmel. Hier trinke ich meinen Morgenkaffee und lausche dem Zwitschern der Vögel", schwärmt sie.

Räucherstäbchen

Der rot-blaue Stuhl von Gerrit Rietveld
Foto: Mafalda Rakoš

Die Schuhe könne man anbehalten, sagt sie, und gleich vorweg sei erwähnt, dass man bei Ito auch nicht wie vielleicht Japan-klischeehaft vermutet auf dem Boden sitzt. "Bei einer Raumhöhe von fast vier Metern käme ich mir dort ziemlich ‚lost‘ vor. In Japan sind die Räume ja viel niedriger."

Ito wurde in Stuttgart geboren, übersiedelte dann mit ihrer Familie nach Bern und lebte vom vierten bis zum 20. Lebensjahr in der Stadt Kamakura, die einst auch Regierungssitz Japans war und mit zahlreichen sehr alten Tempeln bestückt ist. Während Ito von ihrem Leben erzählt, ziehen Schwaden eines Räucherstäbchens durch die Räumlichkeiten. Es stammt aus einem Tempel in Kyoto. In diesem, weiß sie, wird ein Bild ihres Urgroßvaters aufbewahrt. Nippon lässt sich also nicht nur sehen, sondern auch riechen.

Mit 20 kam sie dann nach Wien, begann ein Studium an der Wiener Universität für angewandte Kunst, wo ihr Vater, der Architekt Testuo Ito zuvor eine Gastprofessur innehatte. All das ist schon ein Weilchen her. Seither entwarf Ito unter anderem für das Hotel Sacher, den Opernball, den Juwelier Köchert, das Hotel Haus Hirt in Bad Gastein, das Vestibül im Burgtheater und Architekten wie Gregor Eichinger oder das Büro BWM.

Nachhaltigkeit

Megumi Ito versteht eine Wohnung als eine Höhle, aber auch als eine Art erweiterten Körper, dessen Ecken und Enden Geschichten erzählen und gehegt und gepflegt gehören. Ito tut dies auf mannigfaltige Art und Weise.
Foto: Mafalda Rakoš

Stilistisch sind ihre leuchtenden Entwürfe in keine auch noch so große Schublade zu stecken. Es gibt sie glamourös, reduziert einfach, in Stoff, aus Metall, als Megaluster, als stramme und doch fragil wirkende Stehlampen oder in Form putziger Nachttischlampen.

Erst kürzlich fertigte sie einen Lampenschirm aus geflochtenem Stroh. Das Ding mit stolzen zwei Metern Durchmesser erinnert an ein riesiges Vogelnest. "Jeder trägt verschiedene Seiten in seinem Wesen, mein Interesse ist es, sie alle zu entdecken und ihnen in meiner Arbeit Ausdruck zu verleihen."

Über ihre Entwürfe, bei denen Kimonostoffe zu Lampenschirmen verarbeitet werden, sagt sie: "Wenn in Japan ein Kimono als Kleidungsstück ausgedient hat, macht man die verschiedensten Dinge daraus, zum Beispiel Tischtücher oder Untersetzer. Das bezeichne ich als eine Art Nachhaltigkeit, die in Japan schon sehr lange existiert."

Ob im Land der aufgehenden Sonne auch ein anderes Verhältnis zu Licht gelebt wird? "Ich denke, dass Menschen in Japan das Licht der Dämmerung mehr genießen als die Menschen im Westen. Diese Lichtfarben haben es uns ganz besonders angetan. Wir sehen sie als Belohnung für den Stress des Alltags."

Gelebte Vielfalt

Megumi Ito lebt allein.
Foto: Mafalda Rakoš

Die 110 Quadratmeter der Wohnung, in der Ito allein lebt, sind U-förmig aufgeteilt und zeigen sich schachtelig-verwinkelt. Es gibt eine kleine Küche mit Durchreiche ins Esszimmer, daneben ein Wohnzimmer, von dem man ins ehemalige Zimmer ihres 20-jährigen Sohnes abbiegt, wo noch immer ein Schaukelpferd steht, ein geräumiges Schlafzimmer samt stillgelegtem Kachelofen und einem Wandbild in Form eines Kimonos über dem Bett.

Ferner finden sich ein Schrankraum und ein kleines Bad mit großer Badewanne. "Baden muss sein", sagt Ito mit strengem Unterton. Warum? "Das ist sehr wichtig für die Blutzirkulation." Gut.

Dass Megumi Ito Vielfalt nicht nur gestaltet, sondern ebenso lebt, schlägt sich auch in ihrer Einrichtung nieder. Alles zusammen lässt sich als Mix aus Klassikern wie einem Tisch der Gebrüder Thonet oder Stühlen von Arne Jacobsen, Altbauflair, Krimskrams, Fotos, Bildern, Barockengeln, Asiatika und zahlreichen ihrer Leuchten erleben. Auch eigene Möbelentwürfe wie zum Beispiel ein kleeblattförmiger Computertisch oder ein massiger Schrank für Schuhe sind zu sehen. Auf ihren Küchenkästen hat sie fünf gelbe Schreibtischlampen montiert.

"Russenluster"

Ein geräumiges Schlafzimmer.
Foto: Mafalda Rakoš

Erstaunlich scheint auf den ersten Blick, dass sowohl im Ess- als auch im Wohnzimmer zwei gute alte "Russenluster" von der Decke baumeln. Wie es dazu kommt, möchte der Besucher wissen. "Nun, das verhält sich wohl wie mit schlechten Frisuren von Friseuren oder Schuhmachern, deren Füße in Schlapfen stecken. Oder wie mit Journalisten, die mit billigen Plastikkulis schreiben", sagt sie und grinst von einem Sofa aus auf ihr Gegenüber.

Dazwischen steht ein großer, niedriger Holztisch, auf dem eine Glasplatte zum Liegen kommt. Unter das Glas hat sie ein blütenweißes Kleid drapiert, ein Kleid wie es früher Bäuerinnen in Frankreich trugen, erklärt Ito. Darauf liegen getrocknete und gepresste Blumen, die ihr Kinder vor kurzem auf einem Spielplatz schenkten, an dem sie vorbeikam.

Auch wenn Megumi Ito aus ihrem Fenster auf den Turm der Franziskanerkirche blickt, dürfte sie hin und wieder an die Vielfalt der japanischen Kultur erinnert werden. In einem Interview sagte sie einmal, "wir haben in Japan unglaublich viele Götter und vergöttern die Natur. Es gibt Gottheiten an jeder Ecke: die Luft, das Wasser, die Erde. Deshalb müssen wir im Alltag besser aufpassen. Und wir müssen nicht einen Gott mit vielen teilen. Das macht uns ebenfalls sensibler."

Dass die Küche hinter einer Durchreiche eher klein geraten ist, stört die Designerin nicht, wie sie sagt. Sie könne überall kochen.
Foto: Mafalda Rakoš

Dennoch besucht sie regelmäßig die Franziskanerkirche. Nein, keine Gottesdienste. Sie fühlt sich von der Kirche beschützt, so wie von den kleinen, mit Salz befüllten Schälchen, die an jedem Fenster ihrer Wohnung und an der Eingangstür zu finden sind. Dieser Brauch, klärt Ito auf, stamme aus dem Shintoismus und diene dazu, das Böse abzuwehren und Gönner anzuziehen.

Wie eine Höhle

"Ein Zuhause", sagt die Gestalterin, "gleicht einer Art Körper, der einen umgibt. Diesen gilt es zu hegen und zu pflegen. Man muss ihm Aufmerksamkeit schenken. Jede Ecke einer Wohnung hat eine Geschichte, so wie wir selbst auch viele Ecken und Geschichten in uns tragen." Ito verbringt die allermeiste Zeit allein in diesem Körper, den sie auch Höhle nennt. Diese verlässt sie nur selten, höchstens zum Einkaufen oder wenn sie einen Termin hat. Diese Wohnung ist ihr Wohn-, Lebens- und Arbeitsraum. Sie fühlt sich wohl allein.

Im kommenden Herbst jedoch wird sie diese Höhle voraussichtlich für immer verlassen. Ito plant, nach Paris zu übersiedeln. Eine gute Nachricht für alle, die Gefallen an ihren Gemäuern gefunden haben. Die Wohnung wird frei. Leider ohne Interieur. Vielleicht lässt sie ja die Salzschälchen stehen. (Michael Hausenblas, RONDO exklusiv, 20.6.2022)

Im Bild ist eines von mehreren Salzschälchen zu sehen, welche das Zuhause von Megumi Ito vor Bösem bewahren sollen.
Foto: Mafalda Rakoš