STANDARD: In Deutschland steht gerade ein 101-Jähriger vor Gericht. Was wird ihm vorgeworfen?

Will: Seit einigen Jahren verfolgen wir erneut Beihilfe zum systematischen Mord in Konzentrationslagern. Darum geht es. Auf einer Dienstreise nach Moskau stießen wir erstmalig 2018 im dortigen Militärarchiv auf seinen Namen.

STANDARD: Ist er einer der letzten Fälle, die wegen Verbrechen in der NS-Zeit angeklagt werden?

Will: Gegenwärtig läuft ein weiteres, ebenfalls in Erwartung eines baldigen Urteils. Angeklagt ist eine ehemalige Sekretärin im Konzentrationslager Stutthof. Weitere sieben Verfahren haben wir an Staatsanwaltschaften abgegeben. In einem Fall steht eine Anklage unmittelbar bevor. Inwieweit weitere Anklagen erhoben werden, wissen wir noch nicht. Es stellt sich dabei immer die die Frage der Verhandlungsfähigkeit. Fünf Fälle beziehen sich auf Straftaten in Konzentrationslagern, zwei auf Kriegsgefangenenlager. Das ist noch eine erstaunliche Zahl von Verfahren.

STANDARD: Weshalb wurde 1958 Ihre Behörde, die Zentrale Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen, gegründet?

Will: Ende der Fünfzigerjahre galt vielen die NS-Strafverfolgung nach den alliierten Prozessen und der Entnazifizierung als abgeschlossen. Die Bevölkerung wollte, dass das dunkle Kapitel abgeschlossen wird, und der Beginn des Kalten Krieges hatte den Fokus verschoben. Dann kam es zu einem Ermittlungsverfahren gegen Angehörige eines Einsatzkommandos wegen der Ermordung von mehr als 5500 jüdischen Menschen – auch Kindern und alten Menschen. Der Prozess und das Urteil in Ulm sorgten 1958 für großes mediales Aufsehen und führten zur Gründung meiner Behörde als strafrechtliche Vorermittlungsstelle, vor allem auch mit ihrer Zuständigkeit für im Ausland begangene Taten. Spätestens nun war völlig klar, dass sehr, sehr viele Massenverbrechen noch zu verfolgen waren.

STANDARD: Der legendäre deutsche Staatsanwalt Fritz Bauer wollte alle Wachmänner in Lagern anklagen. Wieso geschah das nicht?

Will: Warum er es nicht weiter versucht hat, weiß ich nicht. Er hat wohl vor allem Fälle zur Anklage gebracht, die auf jeden Fall zu einer Verurteilung führen konnten. Es war auch staatsanwaltschaftliche Praxis, dass man sogenannte einfache Befehlsempfänger nicht angeklagt hat, mit der Begründung, dass sie bei einer Weigerung um ihr Leben gefürchtet hätten. 1969 traf der Bundesgerichtshof zudem eine Entscheidung, die erst recht bewirkte, dass man Wachleute, denen keine konkrete Tatbeteiligung nachzuweisen war, in Ruhe gelassen hat.

STANDARD: Das änderte sich viel später mit dem Fall Demjanjuk.

Will: John Demjanjuk hatte bei seiner Einreise in die USA seine Vergangenheit verschwiegen, sonst hätte er die US-Staatsbürgerschaft nicht bekommen. Er wurde ausgeliefert und im Mai 2011 in München, nach Vorarbeit der Zentralen Stelle, als Gehilfe im Vernichtungslager Sobibor verurteilt. In Deutschland galten die Ermittlungen zu Konzentrationslagern bis dahin als abgeschlossen. Für uns war nun aber klar, dass dies nicht so war und sehr viele Gehilfen davongekommen waren.

STANDARD: Damit wurden auch die Taten von Diensttuenden in Konzentrations- und Vernichtungslagern neu beurteilt?

Will: Wenn jemand in einem Konzentrationslager tätig war, in dem sich für ihn erkennbar Phasen systematischer Massenmorde ereigneten, und er diese durch seine allgemeine Dienstausübung unterstützt hat, kann man das nicht anders beurteilen als bei einem Dienst in einem reinen Vernichtungslager. Das war der Kern unserer Argumentation.

STANDARD: Welche Fälle der Beihilfe zu Massenmord fallen Ihnen ein?

Will: Oskar Gröning, der Wachmann in Auschwitz gewesen war, wurde 2015 wegen Beihilfe zum Mord in 300.000 Fällen zu einer vierjährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Der Bundesgerichtshof hat die Verurteilung wegen Beihilfe durch die allgemeine Dienstausübung bestätigt. Oder Reinhold Hanning, der ebenfalls Wachmann in Ausschwitz gewesen war und wegen Beihilfe zum Mord an mindestens 170.000 Fällen verurteilt wurde.

Oberstaatsanwalt Thomas Will bei der Sichtung von Akten
Michael Fuchs Fotografie

STANDARD: Was ist Mord, und wo beginnt Beihilfe zu Massenmorden?

Will: Die Haupttäter der staatlich organisierten NS-Massenmorde befanden sich in Berlin. Die zweite Ebene wäre etwa die Lagerkommandantur, die dritte Ebene sind die unmittelbar Ausführenden. Derjenige, der die Tat unterstützt, der also dafür da ist, dass die Täter ihre Tat ausführen können, macht sich der Beihilfe schuldig. Im allgemeinen Strafrecht wäre das jemand, der zum Beispiel "Schmiere steht" oder Waffen besorgt, im KZ waren das auch Wachmänner, die dafür sorgten, dass die Häftlinge nicht fliehen konnten.

STANDARD: Hätten die Erkenntnisse ab 2015 Bauer die Arbeit erleichtert?

Will: Damals lebten noch zehntausende Wachmänner, da wäre man auch an die Grenzen des Machbaren gekommen. Und man muss natürlich auch die Gerichte haben, die verurteilen. In den 1960er-Jahren fanden sich wieder viele Leute in einflussreichen Positionen, die oft wegen eigener Betroffenheit kein Interesse hatten, das aufzuarbeiten.

STANDARD: In Österreich sieht man mitunter neidvoll nach Deutschland, weil dort die Justiz eben nicht dermaßen NS-belastet gewesen sein soll.

Will: Das kann ich nicht einschätzen. Deutsche Richter und Staatsanwälte, die zur fürchterlichen Justiz in der NS-Zeit beigetragen hatten, gab es jedenfalls im Nachkriegsdeutschland auch noch viele. Wenn wir da Hinweise bekommen haben, war es oft der einfachste Weg, einen Blick ins Handbuch der Justiz im Nachkriegsdeutschland zu werfen, da fanden sich viele wieder. Ich kann zwar keinen Vergleich zu Österreich ziehen, weiß aber, dass es in Deutschland eben keinen Kontinuitätsbruch gab.

STANDARD: Sie verhandeln immer noch, während es in Österreich das letzte Urteil 1975 gab.

Will: Vieles ist auch über die Jahrzehnte hinweg in Deutschland nicht so geglückt. Ich kann uns da gar nicht besser darstellen. Immerhin wurden die Bemühungen nie beendet. Sonst hätten wir die letzten Urteile nicht, die sehr wichtig sind, denn man kann niemandem erklären, dass jemand, der in so einem Lager wie Auschwitz Dienst geleistet hat, völlig schuldlos war.

STANDARD: Wie viele Mitarbeiter und wie viel Geld haben Sie?

Will: Wir sind derzeit 20 Personen, davon sind mit mir acht Juristinnen und Juristen im Ermittlungsbereich tätig. Darüber hinaus haben wir zwei Übersetzerinnen und den weiteren Unterstützungsbereich, auch zur Erfassung und Auswertung der Verfahren. In den Sechzigern waren es über 120 Mitarbeiter. Die Kosten für die Zentrale Stelle von rund 1,8 Millionen Euro im Jahr werden von den Ländern anteilig getragen.

STANDARD: Was passiert, wenn der letzte potenzielle Täter verstorben ist?

Will: Wenn es keine Fälle mehr gibt, ist auch unsere Arbeit zu Ende. Die etwa 800 laufenden Meter Akten sind aber ein unglaublicher historischer Schatz und sollen auch in einer noch zu schaffenden Nachfolgeeinrichtung zugänglich bleiben, an einem Ort der Mahnung, der Forschung und der Bildung und gegen das Vergessen.

STANDARD: Gibt es Fälle, die Sie persönlich besonders lange beschäftigen?

Will: Viele. Besonders wichtig ist mir dabei die Unschuldsvermutung bis zu einer Verurteilung. Jeder hat das Recht auf ein faires Verfahren. Ein Beispiel war ein Beschuldigter wegen der grausamen Tötung von Geiseln in Italien, der die Tat bestritt. Für mich sprach vieles für seine Schuld. Vor seinem Haus wurde regelmäßig gegen ihn demonstriert, und am Jahrestag der Tat, die ihm zur Last gelegt wurde, hat er sich schließlich mit seiner alten Kriegspistole erschossen. Das ist mir wegen der öffentlichen Vorverurteilung nahegegangen. (Colette M. Schmidt, 28.5.2022)