Demonstration zur Unterstützung von Kaïs Saïed in Tunis. Noch gibt es zahlreiche Unterstützer des Präsidenten – doch einhellig ist die Zustimmung schon lange nicht mehr.

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Ende Juni soll die neue Verfassung fertig sein. Gut drei Wochen haben dann die Tunesierinnen und Tunesier Zeit, um den Text zu diskutieren, bevor sie am 25. Juli darüber abstimmen werden – ein Jahr nachdem Präsident Kaïs Saïed weite Teile der Macht an sich gerissen hat. Damals hat er den Notstand ausgerufen und den Regierungschef abgesetzt, in den folgenden Monaten eine Reihe unabhängiger staatlicher Kontrollinstanzen außer Kraft gesetzt und das Parlament aufgelöst. Die wirtschaftliche Lage des Landes, das seit der Revolution 2011 – damals die erste des Arabischen Frühlings – immer wieder auf finanzielle Unterstützung aus dem Ausland angewiesen war, ist desolat und hat sich seit Beginn der Corona-Pandemie und der Machtübernahme Saïeds erneut verschlechtert.

Die neue Verfassung soll, so der Präsident, die Grundlage für einen politischen und wirtschaftlichen Neuanfang bilden, der die Belange der Regionen und der Bevölkerung stärker berücksichtigt als der bisherige Status quo in der jungen Demokratie. Der 64-Jährige spricht sich für ein dezentrales, basisdemokratisches Regierungsmodell mit einem starken Staatspräsidenten – vorerst also ihm selbst – an der Spitze aus.

Zu viel der Ehre

Lange war offen, wie das neue Grundgesetz überhaupt zustande kommen soll, seit vergangenem Wochenende ist es zumindest auf dem Papier klar. Vertreterinnen und Vertreter verschiedener Organisationen und die Rektoren der juristischen Fakultäten sollen einen Entwurf schreiben. Kaïs Saïed, der selbst pensionierter Jus-Dozent ist, hat am Ende das letzte Wort. Mitglieder der politischen Parteien wurden nicht berücksichtigt.

Doch längst nicht alle Nominierten wollen an der Erarbeitung des Texts nun auch wirklich beteiligt werden. Die Vertreter der Universitäten erklärten in einem offenen Brief, dass sie nicht politisch vereinnahmt werden wollen, und lehnen daher die Teilnahme an der Aktion ab. Auch der mächtige Gewerkschaftsbund UGTT will ebenfalls nicht mitmachen.

Eigentlich sollte er unter anderem zusammen mit dem Arbeitgeberverband, der Menschenrechtsliga und dem Anwaltsverband Vorschläge für den sozioökonomischen Teil der Verfassung liefern. Die vier Organisationen haben bereits 2013, als Tunesien nach dem Mord an zwei Oppositionspolitikern in eine tiefe politische Krise gestürzt war, erfolgreich zwischen den Konfliktparteien vermittelt und dafür gesorgt, dass die damalige Verfassung 2014 dennoch verabschiedet wurde. Dafür hat das Quartett 2015 den Friedensnobelpreis erhalten.

Doch diesmal lehnt die UGTT, die dem Prozess eine gewisse Glaubwürdigkeit hätte verleihen können, den sogenannten Nationalen Dialog ab – zumindest in dieser kurzfristigen Form, die wichtige Akteure ausschließe. Er sei keine Antwort auf die legitime Forderung des 25. Juli nach mehr sozialer Gerechtigkeit, die Ergebnisse stünden im Vorfeld fest und das Verfahren werde "keinen Weg aus der Krise aufzeigen, sondern diese nur zusätzlich verschärfen und verlängern", kritisierte die Gewerkschaft jüngst in einer recht scharf formulierten Pressemitteilung.

Isoliertes Staatsoberhaupt

Sie hatte über Monate um eine klare Position zum Präsidenten, zu seiner Machtübernahme und zu seinen Vorhaben für den Staat gerungen und Saïed auch mehrfach zu einem offenen Dialog aufgefordert. Jetzt hat sie als letztes Druckmittel für ein noch unbestimmtes Datum einen landesweiten Generalstreik des öffentlichen Diensts angekündigt – eine Karte, die sie in der Vergangenheit nur in Ausnahmefällen gespielt hat. Auch innerhalb der Menschenrechtsliga und des Anwaltsverbands regt sich Widerstand gegen die eigenen Vorstände, die angekündigt haben, am Verfassungsprojekt mitzuarbeiten.

Damit ist der Präsident zunehmend isoliert. Selbst politische Unterstützer wie die panarabische Kleinstpartei Echaab äußern sich inzwischen kritisch. In der Bevölkerung hatte sich bereits vor der Machtübernahme Saïeds im vergangenen Sommer eine zunehmende Politikverdrossenheit breitgemacht – eine deutliche Mehrheit hat später seine Schritte allerdings begrüßt. An einer Online-Befragung zu Beginn dieses Jahres, die als Grundlage für die neue Verfassung dienen soll, haben sich nur rund 500.000 der rund acht Millionen wahlberechtigten Tunesierinnen und Tunesier beteiligt. Die Regierung hatte anfangs auf drei Millionen Teilnehmende gehofft. Für ein glaubwürdiges Ergebnis müsste sie beim Referendum deutlich mehr Menschen mobilisieren. (Sarah Mersch aus Tunis, 30.5.2022)