Ein weltberühmter Wiener Philosoph stürzt ins milde Wasser der Neuen Donau. Dabei hat die Regisseurin Nataša Rajković in "Astronaut Wittgenstein" ein bisserl nachgeholfen.

Foto: Davor Sanvincenti

Allzu viel ist es nicht, was Ludwig Wittgenstein im Vergleich zu seinen Mitstreitern (es sind vor allem Männer, deren Werk überliefert wurde) publiziert hat. Und im Vergleich zu den Herren Hegel oder Kant sind seine Sätze auch herrlich eingängig: "Die Welt ist alles, was der Fall ist."

Da nickt man gerne zustimmend. Welt, Fall, das ist aus dem Alltag bekannt, und es klingt so bodenständig. Für seine Philosophischen Untersuchungen zog Wittgenstein auch einmal den Alltagsdialog zweier Bauarbeiter heran, als Beispiel für die sogenannte Privatsprache.

Wohl weniger wegen dieser unschlagbaren Zugänglichkeit als wegen seiner Genialität, die sich nicht zuletzt im Vergleich zu seinen Vordenkern ergibt, ist Wittgenstein ein gern gesehener Gast auf den Bühnen zumindest der deutschsprachigen Welt. Ein philosophisches Problem, das zeigt sich laut Wittgenstein in der Feststellung "Ich kenne mich nicht aus", und da kann wirklich jede und jeder mitgehen, weil: Wer kennt sich schon aus?

Ein Theater der Erfahrung

Mit der 1966 in Zagreb geborenen Regisseurin, Dramaturgin, Dramatikerin und Produzentin Nataša Rajković hat sich nun erfreulicherweise eine Fachkraft des Denkers angenommen: Rajković absolvierte Studien in Philosophie und Literaturwissenschaft an der Universität Zagreb, bevor sie 1993 ihre Theaterarbeit als Dramaturgin begann.

Ihr Konzept von Theater, das sie zusammen mit Bobo Jelčić entwickelte, geht von genauen Alltagsbeobachtungen aus. Das Theater ist für sie weniger ein Medium der Belehrung als eines der Erfahrung. Hier ergibt alles Sinn, trifft Welt auf Fall oder, genauer: Die Festwochen schickten Rajković aus, die Kaisermühlenbucht zu bespielen, und sie warf den Astronauten Wittgenstein in die Fluten der Neuen Donau.

Er kennt sich nicht ganz aus, hat also ein philosophisches Problem. Er trifft auf Paare und Passantinnen, Radfahrerinnen, Skaterinnen, und die Fragen, die Rajković sich und ihm und uns stellt, sind so philosophisch wie dringlich: Was ist natürlich? Was künstlich? (Zufällig gewähltes Anschauungsbeispiel in näherer Donauumgebung: Die Au oder die Au-tobahn?) Wie geht Veränderung? Was macht die Zeit aus ihr? Und: Wie können Unbekannte miteinander kommunizieren?

Macht der Imagination

Hier mag vielleicht Ultraficción Nr. 1 / Fracciones de tiempo des gefeierten spanischen Theaterkollektivs El Conde de Torrefiel, bestehend aus Tanya Beyeler und Pablo Gisbert, anschließen. Diese "Zeitbruchstücke" zeigen die Macht der menschlichen Imagination, die – höchst individuell und zugleich gesellschaftlich (über)formt – der Wahrnehmung der "wahren" Wirklichkeit bisweilen im Weg steht. Höchst unterschiedliche Realitäten treffen hier auf einem Screen irgendwo auf einer Wiese aufeinander: eine improvisierte Rave-Party im Wald.

Fahrig lächelnde Flugbegleiterinnen und Bootsflüchtlinge auf dem Weg von Tripoli nach Italien. Keine Verbindung – und doch die unbezwingbarste von allen: Alles geschieht in Raum und Zeit. Die sicheren vier Wände der Bühnensituation fehlen hier, die Imaginationsleistung des Publikums ist gefordert: Weil es aus Menschen besteht, werden sie das Geschehen im Kopf zu Fiktion verarbeiten, sich ihren eigenen Reim darauf machen, eine eigene Geschichte erzählen.

Aber können sich diese unterschiedlichen Fiktionen miteinander verständigen? Die Welt mag alles sein, was der Fall ist. Aber was, wenn es so viele Welten gibt wie Menschen? Kein Wunder, dass Astronaut Wittgenstein sich da nicht mehr auskennt. (Andrea Heinz, 30.5.2022)