Der Krieg tobt, Anna Netrebko gibt aber wieder Konzerte.

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Nach dem freiwilligen Rückzug folgte jetzt die Rückkehr auf die Konzertbühne: Anna Netrebko sang wieder, in Paris gab es stehende Ovationen, in Mailand Jubel an der Scala. Es entsteht der Eindruck, Politik, der tobende Krieg gegen die Ukraine und Netrebkos in Zweifel gezogene Haltung würden keine Rolle mehr spielen. Die Sphäre der Kunst möge endlich wieder eine Zone des schönen politikfreien Scheins werden!

So klar ist die Sache allerdings nicht. Zwar hat Netrebko spät den Krieg gegen die Ukraine verurteilt. Dennoch bleibt sie in einer ambivalenten Situation und "Objekt" divergierender Standpunkte.

"Die Heuchelei" des Publikums

Osterfestspiele-Chef Nikolaus Bachler würde sie engagieren, die New Yorker Met will das nach wie vor nicht tun. Der ukrainische Botschafter in Paris kritisierte, dass das Konzert in Paris nicht abgesagt wurde. Er fand "die Heuchelei" des Publikums traurig, während dutzende Demonstranten vor der Philharmonie gegen das Konzert protestierten. In Russland wiederum Verhöhnung: Parlamentschef Wjatscheslaw Wolodin nannte Netrebko eine geldgierige Verräterin der Heimat. Auch ein für den Juni angesetztes Konzert in Nowosibirsk wurde abgesagt.

Wer so zwischen den Meinungsstühlen sitzt, wird den uneingeschränkten Jubel bei Konzerten natürlich als Bestätigung der eigenen, nun wieder "kunstautonomen" Vorgangsweise erleben. Emotional verständlich. Es bleibt allerdings Teil der Geschichte von Anna Netrebko, von Wladimir Putin für die Behübschung seiner Politik eingespannt worden zu sein. Die Bilder bleiben. Und auch wenn niemand im Westen ahnen wollte, mit wem er da Geschäfte macht und am langen weißen Tisch verhandelt, erwächst für Netrebko aus diesem Teil ihrer Historie doch eine Verpflichtung.

Russen interpretieren

Zudem: Wer als Star in der Öffentlichkeit steht, verfügt über besondere Symbolmacht und somit auch die Möglichkeit, reichweitenstark Gesten zu setzen. Das verpflichtet. Es ist zwar wichtig, Werke von Rachmaninow und Tschaikowsky zu interpretieren, um zu zeigen, dass Russland mehr ist als die nun dominierende Politrichtung.

Wenn Netrebko ihre Distanzierung allerdings ernst gemeint hat, wäre es ebenso wichtig, ein paar zumindest künstlerische Gesten im Sinne des Opfers, der Ukraine, zu setzen. Wenn ihre Distanzierung tatsächlich authentisch war, sollte dies keine große Selbstüberwindung kosten. In Mailand und Paris hat sie jedenfalls keine Gesten gesetzt. (Ljubiša Tošic, 30.5.2022)