Ein "Tschuschenaquarium"? Meint ein Bad mit hohem Migrantenanteil. Stephan Ozsváth deutet das positiv.

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Stephan Ozsváth: "Ist die Leitkultur, dass Österreich die Schnitzel aus Italien importiert hat und die Knödel aus Böhmen?"

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Als Korrespondent des deutschen Senders ARD für Südosteuropa verschlug es Stephan Ozsváth 2012 nach Wien. Er berichtete aus zwölf Ländern des Balkan, war im Zuge der Flüchtlingskrise 2015 entlang der "Balkanroute" unterwegs. Danach ist er hier "hängengeblieben". Um der Stadt noch näherzukommen, nimmt er seit 2020 den Podcast Tschuschenaquarium auf, für den er mit Menschen spricht: denen, deren Familien schon seit Generationen in der Stadt leben, nachdem die Vorfahren aus Südtirol oder Böhmen hergekommen sind, und solchen mit frischerer Migrationsgeschichte aus Syrien oder Afghanistan. Das gleichnamige Buch (20,60 Euro, 218 Seiten, Danube Books) zum Podcast gibt mittels Porträts subjektive Einblicke in eine Vielfalt von Leben von "Wiener Typen".

STANDARD: Was heißt "Tschuschenaquarium"?

Ozsváth: Das Wort ist mir untergekommen, als es um das Dianabad ging. "Tschuschenaquarium" bezeichnet ein Schwimmbad mit hohem Migrantenanteil. Der Begriff ist vom Gehalt her einerseits deutlich rassistisch, wird aber in den Generationen verschieden krass wahrgenommen. Ich nutze ihn in einer Art Guerillataktik und deute ihn positiv um. Für das Buch meint er einen Ort, an dem sich viele Menschen mit Migrationshintergrund aufhalten. Ich bin ja selbst ein Mischling: Mein Vater stammt aus Ungarn, meine Mutter aus Deutschland, mein deutschstämmiger Stiefvater aus dem Banat. Sein Vater war Bergwerksdirektor im heutigen Rumänien. Diese Brückenfunktion macht meine Identität aus. Es gibt viele Studien, die belegen, dass wir alle mehr oder weniger durchmischt sind. Das ist das Normalnull, das will ich den Apologeten des Reinrassigen entgegensetzen.

STANDARD: Es geht darum, eine andere Art von Erzählung von Gesellschaft zu schaffen als jene, die politisch und medial oft strapaziert wird?

Ozsváth: Durch die sogenannte Flüchtlingskrise von 2015 hat sich in den europäischen Gesellschaften viel verändert, auch in Österreich. Alleine schon, weil es hierzulande im politischen Diskursraum bereits lange eine Partei wie die FPÖ gibt, die deutlich rassistische Narrative in die Mitte der Gesellschaft getragen hat, und das auch im Wettbewerb mit der ÖVP, kann man durchaus auch mal einen anderen Blick einbringen, finde ich.

STANDARD: Ist Wien in dieser Hinsicht mehr provinziell als weltstädtisch?

Ozsváth: Das empfinde ich nicht so. Ich empfehle den Brunnenmarkt, der ist einfach Wien. Aber ich empfinde österreichische Innenpolitik als wahnsinnig provinziell. Mir rollen sich mitunter die Fußnägel hoch. Ist die Leitkultur, dass Österreich die Schnitzel aus Italien importiert hat, Knödel aus Böhmen?

STANDARD: Sie porträtieren etwa den aus Syrien stammenden Straßenbahnfahrer, der erst seit ein paar Jahren in Wien lebt. Er schwärmt von seiner Arbeit auf der 2er-Bim-Linie. Wenn er die abfährt, hat er in 56 Minuten von den Arabern und Türken in Ottakring über die "typischen Österreicher" im Achten, die Touristen im Ersten, die jüdische Bevölkerung im Zweiten und wieder die Türken im 20. Bezirk einmal alles gesehen, was Wien bereithalte, sagt er. Ist Wien sich des Potenzials bewusst?

Ozsváth: Wenn ich an die Diskussionen der letzten Jahre denke, welche Sprachen auf dem Schulhof gesprochen werden sollen und welche nicht, ist das absurd. Wir finden es selbstverständlich, dass wir Englisch können, um als weltläufig zu gelten, aber was ist schlechter daran, wenn jemand Deutsch und Türkisch oder Deutsch und Serbisch spricht? Man sollte fragen: Wie kann das eine Gesellschaft nach vorn bringen? Man muss das mehr als Ressource begreifen. Migration ist eine Chance. Wenn man statt Asylwerber auf den Arbeitsmarkt zu lassen Deutschklassen kürzt, ist das retro, ideologisch und kein sachliches Agieren. Ich sehe darin keine Antwort auf ein Problem. Die Bevölkerung ist oft deutlich weiter als die Politik und bereiter, mal Experimente einzugehen.

STANDARD: Die Menschen, die Sie porträtieren, sind meist sehr mutig, haben viel überstanden. Ihre Geschichten beeindrucken beim Lesen.

Ozsváth: Es sind vielfach Geschichten vom Sich-Durchkämpfen und davon, trotz aller Widrigkeiten hier anzukommen. Der Taekwondo-Weltmeister Ronny Kokert etwa macht mit seinen Freedom Fighters ja viel mehr als nur afghanische Flüchtlinge in Kampfkunst zu unterweisen. Er zeigt, dass man auch anders mit ihnen umgehen kann. In der Regel bedeutet Migration sozialen Abstieg. Dennoch schaffen es diese Leute, trotz Brüchen in dieser Gesellschaft anzukommen und ihren Beitrag zu leisten. Es gibt bei allen Gesprächen einen roten Faden: Es gibt Widrigkeiten, immer wieder aufblitzenden Rassismus, letztlich fühlen sich die allermeisten aber wohl in Wien. Wien ist dabei auch Chiffre für eine wirklich gut verwaltete Stadt.

STANDARD: Wo besteht Verbesserungsbedarf?

Ozsváth: Es gibt immer wieder Höllenhunde, etwa Lehrer, die an Kreuzungspunkten im Leben sagen: Du schaffst es nicht, lass das, dein Platz ist im Maschinenraum. Da gibt es eine Art gläserne Decke, die aber grundsätzlich durchlässiger wird. Das finde ich ermutigend. Es ist auch ein Teil von Normalisierung, dass man zur Kenntnis nimmt: Hier sind Menschen, die leben mit uns und die sollen auch medial, politisch etc. Repräsentation finden.

STANDARD: Was mögen Sie an Wien?

Ozsváth: Die Kultur ist großartig, ich mag die Vielfalt in der Stadt, die etwas langsamere Geschwindigkeit. Der Wiener neigt zwar zu Unverschämtheiten mit Zeitzünder, wenn man sich an den Humor gewöhnt hat, ist er aber ganz schön. Mit das Schönste an Wien ist, dass es "mitten" in Europa liegt, eine Stunde Fahrt, und man ist in einem anderen Land. (Michael Wurmitzer, 31.5.2022)