Wer hätte das gedacht? Mitten hinein in die Verunsicherung darüber, was durch Pandemie, Wirtschaftskrise und Krieg in der Ukraine noch alles an bösen Folgen auf Europa zukommen kann, setzte die dänische Bevölkerung ein bemerkenswertes Zeichen zur Stärkung der EU-Integration.

Wenn sich zwei Drittel der Bürger dieses diesbezüglich traditionell skeptischen Landes bei einem Referendum für die künftige Teilnahme an der gemeinsamen EU-Militärpolitik aussprechen, gibt es nicht viel rumzudeuten. Die Däninnen und Dänen sind solidarisch, sie wollen "mehr Europa". Seit ihrem EU-Beitritt 1973 standen sie – ähnlich wie Großbritannien bis zum Austritt im Jahr 2020 – stets für einen defensiven EU-Kurs.

Umdenken in Nordeuropa

Das galt besonders in der Sicherheitspolitik. Wie das Nicht-EU-Mitgliedsland Norwegen setzte Dänemark militärisch ganz auf die Nato, misstraute der EU. Das Umdenken in Nordeuropa konterkariert nun nicht nur den Brexit, der die Gemeinschaft jahrelang gelähmt hatte. Weil zwei Bündnisfreie in der EU, Finnland und Schweden, bald der transatlantischen Allianz beitreten werden und das Nato-Land Dänemark militärisch die künftige EU-Armee aufbessern will, ergeben sich deutliche Verschiebungen der politischen Perspektiven in Brüssel.

Man muss weit zurückgehen, um diese Abstimmung als echte historische Wende einzuordnen. Es war die dänische Bevölkerung, die vor dreißig Jahren mit einem Nein zum EU-Vertrag von Maastricht für einen echten Schreckmoment der EU-Integration gesorgt hatte. Nach den Revolutionen gegen kommunistische Diktaturen in Mittel- und Osteuropa 1989, der deutschen Wiedervereinigung 1990, wurde auch das "Haus Europa" komplett umgebaut.

Die Däninnen wollen mehr Europa.
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Sehr viel von dem, was wir heute im offenen Europa ohne EU-Binnengrenzen, von Binnenmarkt und Währungsunion, an gemeinsamer Außen- und Sicherheitspolitik kennen, wurde damals auf komplett neue Füße gestellt – niedergeschrieben in Maastricht.

Aber das dänische Volk sagte Nein. Dem Land wurden mehrere Ausnahmen – Opt-outs – zugestanden. Es musste sich weder an der Währungsunion noch an der Justiz- und Polizeizusammenarbeit noch an der Sicherheitspolitik der EU beteiligen. 2000 und 2015 versuchten Regierungen, das aufzuweichen. Aber das Volk sagte bei Referenden Nein.

Die EU-Integration läuft

Diese Skepsis wurde nun erstmals gekippt. Bedeutet das, dass in Kopenhagen EU-Integrationseuphorie ausgebrochen ist? Mit Sicherheit nicht. Aber es ist doch ein deutlicher Wendepunkt.

Auch an anderen Stellen zeigt sich die Fortsetzung der EU-Integration. Sie läuft zäh, langsam ab; nicht so spektakulär wie das Aushandeln neuer EU-Verträge. Dazu gehört, dass Kroatien ab 2023 an der Währungsunion teilnimmt, ein großer Schritt für ein kleines Land. Schleichende EU-Integration war, was die EU-Staaten bei den Pandemiemaßnahmen taten: gemeinsame Finanzierung von Corona-Impfstoff wie auch des 750 Milliarden Euro schweren Wiederaufbaufonds. EU-Verträge sahen das nicht vor.

Und so geht es weiter: Beim jüngsten EU-Gipfel wurde vereinbart, dass sich die Staaten bei Öl- und Gasimporten nicht nur eng abstimmen, sondern sich notfalls wechselseitig mit Strom, Gas, Öl und Treibstoff direkt aushelfen. Bisher galt die eiserne Regel: Mein Energiemix gehört mir! Davon spricht in der Not heute niemand mehr. Auch das bedeutet weiteres Zusammenwachsen in der EU. (Thomas Mayer, 2.6.2022)