Von Baumgarten strömen jährlich rund 40 Milliarden Kubikmeter Erdgas weiter in fast alle Richtungen des Kontinents.

Foto: Robert Newald

Es gibt diese kleinen Orte, die manchmal gewaltig groß wirken können. Vösendorf zum Beispiel, das im Ortskern noch an das Bauerndorf erinnert, das es einmal war, aber nebenan steht die Shopping City Süd, das riesige Einkaufszentrum. Oder Lech am Arlberg, das im Winter ein mondäner Skiort ist und im Sommer zu einem Bergdorf schrumpft. Und es gibt Baumgarten an der March: In dem niederösterreichischen Dorf steht eine der wichtigsten Gasverteilerstationen Europas, doch kaum jemand lebt hier.

Von Baumgarten strömen jährlich rund 40 Milliarden Kubikmeter Erdgas weiter in fast alle Richtungen des Kontinents, zumindest bisher noch, zugleich wohnen hier nur 200 Menschen. Ein Dorf an der österreichisch-slowakischen Grenze, aber auch ein Knotenpunkt, eine Weltkreuzung.

Anlässlich des 60-Jahr-Jubiläums der Gasverteilerstation im Jahr 2019 sagte eine Managerin der OMV, die den Standort damals noch betrieb: "Die Menschen in Russland haben Baumgarten für eine riesige Stadt gehalten." In Moskau habe man sie gefragt, "ob es einen Direktflug nach Baumgarten gibt".

Johann Hansi, einst Ortsvorsteher und OMV-Veteran; Franz Neduchal, ehemaliger Bürgermeister.
Foto: Robert Newald

Es lief ja lange gut mit dem Gas aus Russland, sogar im Kalten Krieg floss es immer, und darauf war man stolz, auf der Station in Baumgarten wie in der Regierung in Wien. Seit dem Ukraine-Krieg aber hat sich die europäische Debatte gedreht, manche in der EU fordern ein Embargo gegen russisches Gas. Kanzler Karl Nehammer (ÖVP) schließt das aus, Österreich sei abhängig, 80 Prozent des Gasimports stammen laut E-Control aus russischen Feldern.

Ein Drehkreuz von Bedeutung

Baumgarten war einst eine Förderstation, heute wird Gas hauptsächlich verdichtet und weitertransportiert. Das Areal misst 18 Hektar, etwa 50 Menschen arbeiten dort. Das russische Gas kommt von Sibirien über die Ukraine und die Slowakei nach Baumgarten. Rund 20 Prozent bleiben in Österreich, ein Großteil der 40 Milliarden Kubikmeter wird in Pipelines an Nachbarn weitergeleitet – nach Italien, Ungarn und Deutschland und über weitere Knotenpunkte bis nach Frankreich, Slowenien und Kroatien. Ein Drehkreuz von europäischer Bedeutung also.

Bisher bleibt in der Verteilerstation Baumgarten alles beim Alten, in der nur einen Kilometer entfernten Ortschaft tut es das ohnehin. An einem Freitagnachmittag kann man die Tür des Selbstbedienungsbioladens quietschen hören, so leise ist es in Baumgarten. Eine Straße, zwei Häuserzeilen, viel mehr ist hier nicht. Im alten Schulgebäude mit seiner markanten umgeknickten Turmspitze ist keine Volksschule mehr, auch das Wirtshaus hat schon lange geschlossen.

Eine Straße, zwei Häuserzeilen, viel mehr ist hier nicht.
Foto: Robert Newald

Man muss wissen, Baumgarten gehört seit 1975 zur Gemeinde Weiden an der March. Diese besteht aus den Katastralgemeinden Oberweiden und Zwerndorf mit je rund 400 Einwohnern und eben aus Baumgarten, dem kleinsten der drei Orte.

Einige Gemeinsamkeiten

Horst Reischütz, ein hagerer Mann im Arbeitsmantel, repariert gerade das Containerklo auf seinem Campingplatz in Zwerndorf. Der 59-Jährige ist nebenbei Ortsvorsteher von Zwerndorf und ein bescheidener Mensch. Er sagt nicht: "Ich bin der Ortsvorsteher", sondern: "Ich mach’ den Ortsvorsteher." Trotz dieser Funktion gilt Reischütz manchen in der Gemeinde als unbequem, ja als Rebell. "Die Leute sind hier verschlossen", sagt Reischütz und liefert gleich eine historische Erklärung mit: "1955 kamen der Staatsvertrag und an der Grenze der Stacheldraht, dann war hier Stille. An der March war die Welt aus."

In Weiden an der March können die meisten mit einem Campingplatz nicht viel anfangen, gerade deshalb habe er einen gebaut, sagt Reischütz. "Ich wollte zeigen: Beginnen wir uns ein wenig zu öffnen."

Horst Reischütz will, dass sich der Ort wieder öffnet.
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Die drei Dörfer Oberweiden, Zwerndorf und Baumgarten wollten einst gar nicht fusionieren, wissen die Älteren noch. Dabei haben die Ortschaften einiges gemeinsam: viele Landwirte, viel Traditionsbewusstsein, aber auch Leerstände und verlorengegangene Schulen und Gasthäuser.

Einen Kindergarten gibt es nur noch in Zwerndorf, einen Bäcker nur noch in Oberweiden. Dieser schließt allerdings schon um 10.30 Uhr. Sonst kauft man ein in unbemannten Hofläden, in denen man seine Einkäufe auf einen Notizblock schreibt und Münzen in eine Büchse wirft. In Weiden haben die Kaufleute viele Erdbeeren, viel Spargel und viel Vertrauen.

Mehr Fridays for Hubraum

Oberweiden ist wie Baumgarten ein langgestrecktes Straßendorf. Dem Passanten zeigt man eher nur geschlossene Fensterläden, und in den Innenhöfen spielt sich das wahre Leben ab, abgeschieden und privat, mit Kinderrutsche und Weber-Grill. Fußgänger sieht man kaum, in der Garage der Freiwilligen Feuerwehr entdeckt man zwei junge Männer. Was ist das Schönste an Weiden an der March? "Dass es nicht Wien ist", sagt einer der beiden.

Am frühen Nachmittag fahren durch die Hauptstraße in Oberweiden in etwa genauso viele Autos wie Traktoren, manche haben noch schwarze Kennzeichen, wie sie bis 1989 vergeben wurden. Weiden, das ist mehr Diesel als Tesla, mehr Fridays for Hubraum als Fridays for Future.

Franz Neduchal wuchtet seinen Körper hinters Lenkrad seines John-Deere-Traktors und fährt übers Feld. Hinten sitzen zwei rumänische Helfer und setzen Gurken. "Die Menschen hier sind nicht unfreundlich, bei uns verstellt sich nur keiner", sagt Neduchal über die Mentalität im Marchfeld. "Das ist bei uns nicht wie im Westen, wo die Einheimischen die Touristen brauchen." Neduchal muss es wissen, er war lange Bürgermeister von Weiden, natürlich für die ÖVP, und führt heute das Weydner Wirtshaus.

Foto: Robert Newald

Und die Erdgasstation? "Man bekommt mit, wenn sich dort etwas ändert, aber nicht sehr intensiv", sagt Neduchal. Wichtig für den Ort sei die Kommunalsteuer der Station, jährlich ein niedriger sechsstelliger Betrag. So wie die Voestalpine etwa Linz prägte, so war das mit dem Erdgas und Baumgarten nie. Die Station brauchte gar nicht so viele Mitarbeiter, und die kamen oft aus anderen Dörfern.

Johann Hansi gehört zu den wenigen Baumgartnern, die einst für die Station arbeiteten, Abteilung Flurschäden. Er handelte für die OMV mit den Bauern Verträge aus, um sie zu entschädigen, wenn eine Gasleitung unter einem Acker verlegt wurde. "Es war ein gutes Geschäft für die Bauern, für die OMV, für alle", sagt Hansi.

Rund 40 Milliarden Kubikmeter Erdgas werden in Baumgarten jährlich weitertransportiert, zumindest bisher.
Foto: REUTERS/HEINZ-PETER BADER

Windräder

Auch in Baumgarten ändern sich die Dinge langsam. OMV-Veteran Hansi schließt mit den Marchfelder Bauern heute nicht mehr Verträge für Pipelines ab, sondern für Windräder. Die OMV hat die Tochterfirma Gas Connect Austria, die die Verteilerstation betreibt, 2020 an den Stromkonzern Verbund verkauft.

Noch ein Zeichen der Zeit: Die grüne Umweltministerin Leonore Gewessler vereinbarte mit der Slowakei kürzlich die "Renaturierung der March"; im 20. Jahrhundert hatte man den Fluss mit Steinen in ein künstliches Bett gedrängt, nun holt man die Steine wieder raus.

Der Kamp-Thaya-March-Radweg führt heute auch nach Weiden, gut für Campingplatzbesitzer Reischütz. Seine Zielgruppe? "Der gutsituierte Pensionist, der schon alles gesehen hat", sagt er. Auf seiner Homepage empfiehlt er den Gästen Sehenswürdigkeiten, etwa die "Sandberge in Oberweiden" und die "Weidenbachmündung in Zwerndorf". An oberster Stelle: die "Verdichterstation Baumgarten". (Lukas Kapeller, 4.6.2022)