Die Musikerin Halsey kritisierte ihr Label dafür, einen viralen Moment auf TikTok faken zu wollen.

Foto: TikTok

Die amerikanische Popsängerin Halsey hat nicht nur einige Welthits (Without Me oder Closer mit den Chainsmokers) zu verbuchen, sondern ärgert sich auch gern. Ende Mai war es wieder so weit. Stein des Anstoßes: ihr eigenes Label Capitol Records. Sie griff also zu ihrem Handy, machte die App Tiktok auf und ihrem Ärger dort in Videoform Luft: "Es gibt einen Song, den ich so bald wie möglich veröffentlichen möchte, aber mein Label lässt mich nicht. Ich bin seit acht Jahren in dieser Industrie, habe über 165 Millionen Einheiten verkauft, und mein Label sagt, sie können den Song nicht veröffentlichen, bis sie einen viralen Moment auf Tiktok faken können."

Das Video, in dem sich Halsey beschwerte und in dem als Hintergrundmusik auch ein Ausschnitt des Songs So Good, den sie veröffentlichen wollte, lief, schlug große Wellen. Der virale Moment gelang ihr durch die Empörung also – wenn auch etwas anders, als sich das das Label vorgestellt hatte.

Halseys Kritik richtete sich allerdings nicht gegen Tiktok (sonst hätte sie sie wohl kaum auf der App selbst geäußert), sondern dagegen, dass sie ihre Musik nicht veröffentlichen kann, wann sie es eben will.

Labels haben genaue Zeitpläne dafür, wie die sogenannte Promophase abzulaufen hat. Wann, auf welchen Medien und wie ein Künstler, eine Künstlerin eine neue Veröffentlichung anteasern darf zum Beispiel, ist gerade bei Majorlabels wie Capitol streng geregelt.

Eine Milliarde User

Mit ihrem Video entzündete Halsey aber keine Debatte darüber, wie viel oder wenig Künstlerinnen und Künstler bei der Veröffentlichung ihrer Musik mitreden dürfen, sondern sie befeuerte die Diskussion, wie Tiktok, das zum chinesischen Unternehmen Bytedance gehört, die Musikindustrie generell verändert hat. Denn da ist viel passiert.

Tiktok ist mittlerweile nicht nur ein fixer Bestandteil bei der Vermarktung von Musik geworden, Tiktok hat auch die Beschaffenheit der Musik selbst verändert und bestimmt kräftig mit, wer und was in den Charts landet. Mit einer Milliarde Usern sind auf Tiktok gleich viele Menschen unterwegs wie auf Instagram, Tendenz steigend.

Der virale Moment

Egal ob Tweet oder Instagram-Post, Youtube-Video oder Chatnachricht – fast alles, was sich im digitalen Raum abspielt oder dorthin gelangt, kann "viral gehen". Oftmals passiert das unabsichtlich. Jemand filmt zum Beispiel mit, wie es jemand anderen auf die Pappn haut, stellt das Video ins Netz , wo sich der Fauxpas massiv verbreitet – oft nicht gerade zur Freude der Beteiligten.

So ähnlich funktioniert das auch mit Musik auf Tiktok. Die junge Userschaft entdeckte in der Pandemie zu Beispiel den Sound der Indie-Musikerin Mitski und unterlegte die eigenen Videos mit deren Songs. Mitski wurde auf der App unglaublich populär – ihre Konzerte sind nun ausverkauft, ihre Fanbase hat sich komplett verjüngt und gewandelt. Super findet das die Künstlerin übrigens nicht.

Auch Musik aus vergangenen Jahrzehnten wird auf der App durch viral gegangene Videos wieder hochgespielt – das berühmteste Beispiel ist der User Nathan Apodaca, der Fleetwood Macs Dreams als Hintergrundmusik für eines seiner Skateboard-Videos verwendete und damit viral ging. Nach mehr als 43 Jahren stieg Dreams wieder in die Charts ein.

Andere Musikerinnen und Musiker versuchen, genau das, was bei Mitski oder Fleetwood Mac organisch passiert ist, zu befeuern, also "Viralität" zu kreieren – oder wie Halsey sagen würde: zu faken. Marketingmenschen bezahlen dann zum Beispiel Influencerinnen und Influencer dafür, die Musik ihrer Schützlinge zu promoten.

Charts, Stars, Diversität

Das Schlagwort Charts ist ja schon gefallen. Wer es mit seinen Neuveröffentlichungen auf Tiktok zu Viralität bringt, wird ziemlich sicher in die Charts einsteigen. Das gelingt sowohl bereits bekannten Musikerinnen und Musikern als auch völligen Newcomern. Das berühmteste Beispiel von jemandem, der es in Windeseile von Tiktok-Videos zu einem Grammy brachte, ist der Rapper Lil Nas X.

Aber nicht nur Nobodys können auf Tiktok groß herauskommen, auch Songs fernab der angloamerikanisch dominierten Musikindustrie haben auf Tiktok die Chance, ein weltweites Publikum zu finden. Ein gutes Beispiel ist die Single Love Nwantiti des nigerianischen Sängers CKay, dem ebendas gelang.

Tiktok nimmt Einfluss auf die Musik

Es ist mittlerweile auch ein Kriterium bei der Musikerstellung, dass sie "tiktokable" ist. Instrumentale Hooks, einfache Melodien, zu denen sich eine Tanz-Challenge gleich mitvermarkten lässt? Ja, so wird das gemacht. (Amira Ben Saoud, 5.6.2022)