Jean-Luc Mélenchon wartet auf seine Chance. Emmanuel Macrons Bündnis könnte die Mehrheit verlieren.

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Jean-Luc Mélenchon ist nicht mehr der Jüngste, aber politisch ist er immer noch der Schnellste. Nach dem Finale der Präsidentschaftswahlen, bei dem Emmanuel Macron über Marine Le Pen triumphierte, dachte der 70-Jährige schon einen Schritt weiter. Kaum war das Wahlresultat bekanntgegeben, trat er, der sich gar nicht für die Stichwahl qualifiziert hatte, vor die Kameras und begann die Kampagne für die Juni-Wahlen zur Nationalversammlung.

"Mut! Aktion! Entschlossenheit!", ermunterte er seine Wähler, die er den "Dritten Stand" nannte – wie das Volk in der Französischen Revolution von 1789. "Ihr könnt Macron schlagen!", donnerte Mélenchon. "Die präsidiale Monarchie ist am Ende!"

Ewige Opposition

Schon am Tag darauf klebten seine Anhänger, die sich die "Unbeugsamen" ("insoumis") nennen, die ersten Plakate für die neue Wahl. "Mélenchon Premier ministre" steht darauf. Das war schon fast ein Bruch mit der Verfassung. Ihr zufolge ernennt der Staatschef die Regierung. Sie braucht zwar das Plazet der Nationalversammlung und entstammt damit dem Mehrheitslager. Macron wäre aber nicht gezwungen, unbedingt Mélenchon als Premier zu ernennen, wenn dessen "neue ökologische und soziale Volksunion" (Nupes) die Parlamentswahlen gewänne.

Mélenchon will seine Nominierung indessen erzwingen. Will endlich Chef sein – zumindest Regierungschef, wenn schon nicht Staatschef. Beim Präsidentschaftsrennen im April hatte er den Finaleinzug um einen Stimmenprozentpunkt hinter Le Pen verpasst, landete einmal mehr auf dem undankbaren dritten Platz.

Das war hart für den Caudillo der französischen Politik. Er, der autoritäre, aber kultivierte Volkstribun, der lauteste Meckerer der Nation, der flammende Reden hält und die Massen mitreißt – er glaubt, dass er Besseres verdient hätte als die ewige Opposition. Etwa eine Rolle wie seine Vorbilder Fidel Castro oder Hugo Chávez, früher Wladimir Putin.

"Die Republik, das bin ich!"

Über ein halbes Jahrhundert ist Mélenchon schon im Politbetrieb. Als 17-Jähriger agierte er in den Studentenunruhen des Mai 1968. Wie so viele neigte er den Trotzkisten zu, aber nicht etwa der Hauptströmung, sondern der kleinen, sektiererischen "Organisation communiste internationaliste" (OCI). Dieser elitäre Geheimbund propagierte die reine Lehre und unterwanderte die moderate Linke: Prominente Sozialisten wie der spätere Premier Lionel Jospin oder Parteichef Jean-Christophe Cambadélis waren verdeckte OCI-Mitglieder mit Pseudonymen.

Auch Mélenchon trat in den Parti Socialiste ein, ohne seiner linksextremen Vergangenheit auch nur im Ansatz abzuschwören. Er wurde Senator, Minister, doch er konnte die lauen Sozialisten im Grunde nicht ausstehen. 2009 gründete er nach dem Vorbild von Oskar Lafontaine eine eigene Linkspartei.

Die ersten Anläufe bei den Präsidentschaftswahlen brachten nichts. Mélenchon hatte den Blues und immer wieder cholerische Anfälle. Als die Finanzermittler einmal an seine Tür klopften, um eine Hausdurchsuchung vorzunehmen, schrie er sie an: "Die Republik, das bin ich!" – eine unfreiwillige, aber vielsagende Reminiszenz an das monarchisch-absolutistische Diktum "L’État, c’est moi".

Bündnis der linken Parteien

Bei den Präsidentschaftswahlen verlor er zwar, doch mit 22 Stimmenprozent lag er zugleich weit vor der Sozialistin Anne Hidalgo, die auf 1,7 Prozent absackte. Ein K.-o.-Ergebnis. Jetzt hatte Mélenchon die Sozialisten endlich im Sack: Sie konnten nicht mehr Nein sagen, als er für die Parlamentswahlen ein Bündnis der linken Parteien vorschlug. Natürlich unter seiner Führung. Jetzt beherrscht der Trotzkist vom linken Rand endlich die einst so stolzen Mainstream-Sozialisten, die er vor 46 Jahren infiltriert hatte.

Die Grünen und die Kommunisten haben sich der "Volksunion" ohne viel Widerspruch angeschlossen. Doch das im Mai ausgehandelte Programm der Wahlallianz entspricht weitgehend Mélenchons Programm: Mindestlohnerhöhung auf 1500 Euro (derzeit 1303 Euro), Rentenalter runter auf 60 (heute 62), Grundeinkommen für Junge von knapp 1000 Euro, Einstellung von 860.000 Beamten, Verstaatlichungen, Preissperre für Grundnahrungsmittel.

Dazu kommen: Atomausstieg, Reichensteuer, Ende der präsidialen Allmacht in der Republik, EU ohne Stabilitätspakt. Die vorgesehenen 300 Milliarden Euro an Mehrausgaben würden das Defizit binnen kurzem auf zehn Prozent hochschnellen lassen.

Allianz als Novum

Sein radikales Programm und seine autoritären Züge könnten Mélenchon einen Wahlsieg kosten, der an sich durchaus möglich erschiene: Macron ist unpopulär, und der inflationsbedingte Kaufkraftverlust verleiht der Linken Auftrieb. Auch ist die Allianz der Sozialisten, Grünen und Kommunisten mit den Unbeugsamen ein absolutes Novum.

Und eine Win-win-Situation: Die Sozialisten bringen ihre lokale Verwurzelung ein, und mit Mélenchon hat die "Volksunion" ein Zugpferd, was im bonapartistisch geprägten Frankreich zählt. Doch Mélenchon bleibt unfähig zu Mäßigung und Kompromiss. Prominente Sozialisten machen deshalb bei dem linken Schulterschluss unter Mélenchons Ägide nicht mit.

Ohne die moderateren Linkswähler kann Mélenchon aber im französischen Mehrheitswahlsystem nicht gewinnen. Viele bedauern dies, da "Méluche", so sein Spitzname, Sympathiepotenzial hat und neue Ideen in die Politik bringt – zum Beispiel Wahlkampf per Hologramm. Zugleich folgt er aber seinen radikalen Dogmen, nicht willens, über seinen trotzkistischen Schatten zu springen. Er fließt bis heute in sein Wahlprogramm ein. Am lautesten müsste der große Schimpfer über sich selbst herziehen: Mélenchon ist letztlich sein schärfster Gegner. (Stefan Brändle, 4.6.2022)