"Vulgär sind nicht die Brustwarzen, vulgär sind eure Gedanken", erklärte die 16-jährige Fabiana. Die norditalienische Schülerin, bekleidet mit Hot Pants und einem bauchfreien Top, hatte am vergangenen Freitag zusammen mit dreihundert Schülerinnen und Schülern gestreikt und an einer Protestversammlung vor ihrer Schule, dem Fogazzaro-Gymnasium in Vicenza, teilgenommen. Das Problem seien nicht die Schülerinnen, sondern die Augen, mit denen sie von Erwachsenen angestarrt würden. "Ich bestehe auf meiner Freiheit, mich so anziehen zu können, wie ich es will", betonte Fabiana.

"Ich bestehe auf meiner Freiheit, mich so anziehen zu können, wie ich es will."
Foto: imago images / Ralph Peters

Provoziert hatte den Streik die Schulleiterin Maria Rosa Puleo. Genervt von dem ihrer Meinung nach "unpassenden" Outfit der meisten ihrer Schülerinnen, hatte sie während des Unterrichts erklärt, "dass wir hier an einem Gymnasium sind und nicht am Strand". Sie forderte die Schülerinnen und Schüler auf, sich in Zukunft angemessener zu kleiden und "Freiheit nicht mit mangelndem Anstand zu verwechseln".

Die Aufgabe der Schule bestehe nicht allein darin, Wissen zu vermitteln, sondern den Heranwachsenden auch Manieren beizubringen und damit auf das Leben nach der Schule vorzubereiten, betonte Puleo. "Zu einem Vorstellungsgespräch oder einem Staatsexamen kann man ja auch nicht in Badelatschen erscheinen."

Hitzige Debatte bei 37 Grad

Zu ähnlichen Konflikten bezüglich der Kleiderordnung kam es in diesen Tagen auch an zahlreichen anderen italienischen Schulen – was auch mit den meteorologischen Gegebenheiten zu tun hat. Das ganze Land wird seit Wochen von einer für die Jahreszeit ungewöhnlichen Hitze heimgesucht: In Rom und in weiten Teilen Süditaliens wurden zuletzt 37 Grad und mehr gemessen, im Norden war es nicht viel kühler. Bei den hitzigen Diskussionen über den Dresscode an den Schulen geht es deshalb nicht darum, ob die Schülerinnen und Schüler mit leichter Kleidung zum Unterricht erscheinen dürfen – sondern nur darum, wie leicht das Outfit dabei sein darf.

Schulleiterin Puleo wehrt sich gegen den von den Schülerinnen erhobenen Vorwurf des Sexismus und des Bodyshaming – in ihren Augen handelt es sich ganz einfach um einen Generationenkonflikt. "Ich bin seit zwanzig Jahren im Schuldienst, habe zwei erwachsene Kinder und habe viele Jugendmoden mitbekommen. Aber ich gebe zu, dass ich immer größere Mühe habe, unsere Schülerinnen zu verstehen", sagt die 60-jährige Puleo, die sich selber als Feministin bezeichnet. Die Vorbilder vieler Mädchen seien heute halbnackte Influencerinnen und Frauenbewegungen wie "Free the Nipple". Sie sei nicht prüde, aber: "Den Kampf, ohne BH in die Schule gehen zu dürfen, empfinde ich als anachronistisch. Wahre Freiheit ist doch etwas anderes."

Zwischenruf von prominenter Autorin

In die Diskussion eingeschaltet hat sich am Wochenende auch die Schriftstellerin Dacia Maraini. Im "Corriere della Sera" bezeichnet sie die Schule als einen "weltlichen Tempel", eine heilige Stätte: "In der Schule beschäftigt man sich mit Ideen, mit der Geschichte, mit Ethik – und die Bekleidung muss sich der Würde des Ortes anpassen", betont die in Italien sehr bekannte und angesehene Maraini. Gleichzeitig sei die Schule auch der Ort der größten Freiheit – aber einer Freiheit, die nichts mit Mode und Markt zu tun habe. Die Sprache der Mode sei meist einfach und stereotyp – und habe mit der persönlichen Freiheit so gut wie nie etwas zu tun.

Und wie geht es nun weiter in Vicenza und an den anderen Schulen? Die Schulleiterin sucht auf einer Onlineplattform die persönliche Aussprache mit Schülerinnen, Schülern und deren Eltern. Und die wichtigste Vorgabe gab sie selbst: In einem offenen Brief entschuldigte sich Puleo für so manche Wortwahl der letzten Tage: "Es tut mir zutiefst leid, und es betrübt mich, wenn ich unbeabsichtigt Kummer und Leid verursacht habe: Ich entschuldige mich aufrichtig für das, was möglicherweise als Beleidigung gemeint war, und vertraue darauf, dass diese Entschuldigung angenommen werden kann."

Was das Ergebnis dieser Aussprache sein wird? Wohl kaum die Vorschrift zu einer Schuluniform – dieses Thema ist in Italien nämlich absolut keines. (Dominik Straub aus Rom, 7.6.2022)