Boris Johnson kann aufatmen.

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Die Regierungskrise in Großbritannien geht weiter: Bei der Vertrauensabstimmung über Boris Johnson wollten am Montagabend lediglich 59 Prozent der konservativen Unterhausfraktion ihrem Parteichef den Rücken stärken. 148 von 359 Abgeordneten stimmten gegen den 57-Jährigen, der seit Juli 2019 das Land regiert und die Tories vor zweieinhalb Jahren zu einem klaren Wahlsieg führte. Damit hat sich die Fraktion der Aufforderung des Premierministers, durch ein klares Votum "einen Strich unter die wochenlangen Medienspekulationen" zu ziehen, verweigert.

Nach den Statuten der Konservativen muss sich der Vorsitzende keiner routinemäßigen Wiederwahl stellen. Eine Abstimmung erfolgt nur dann, wenn mindestens 15 Prozent der derzeit 359 Tory-Abgeordneten dem Parteichef das Vertrauen entziehen. Dies geschieht schriftlich durch Mitteilung an den Chef des sogenannten 1922-Ausschusses, der seit 99 Jahren die Interessen konservativer Hinterbänkler vertritt.

Kurzfristig angesagte Abstimmung

Am Sonntag war das Quorum von 54 Misstrauenserklärungen erreicht worden, weshalb am Montagmorgen 1922-Chef Graham Brady vor die Medien trat. Was die graue Eminenz mitzuteilen hatte, war bereits zuvor durchgesickert: In Absprache mit der Downing Street sollte die Abstimmung noch am selben Tag erfolgen.

Damit tat Brady dem Premierminister den gleichen Gefallen wie im Dezember 2018 dessen Vorgängerin Theresa May, gilt doch eine rasche Abstimmung als vorteilhaft für den Amtsinhaber. Am Nachmittag trug Johnson der Fraktion das Plädoyer für seinen Amtsverbleib vor, später hatten die Abgeordneten zwei Stunden Zeit zur Abstimmung.

Großsprecherische Parolen

Dass mit dem Ergebnis, wie von Johnson beschworen, die innerparteilichen Querelen beendet sein werden, gilt als unwahrscheinlich. Zum einen ist der einst als Liberalkonservativer die Hauptstadt London regierende 57-Jährige zuletzt immer weiter nach rechts gerückt und hat damit die Geduld einstiger Weggefährten wie Jesse Norman überstrapaziert. Zudem fallen viele Regierungsinitiativen vor allem durch großsprecherische Parolen und unzulängliche Durchführung auf. Wie kompetentes Regierungshandeln aussieht, hatte hingegen die Frau des Parteivordenkers Norman demonstriert: Kate Bingham leitete das Corona-Impfprogramm, mit dem das Land im vergangenen Jahr weltweit Eindruck machte.

Gleichzeitig nahm auch unter altgedienten Parlamentariern vom rechten Flügel die Ungeduld zu. Ende vergangenen Monats entzog etwa der Erz-Brexiteer John Baron dem Chef das Vertrauen mit der knappen Begründung, dieser habe "das Parlament getäuscht".

Corona-Partys am Regierungssitz

Der Vorwurf bezieht sich auf die mehr als ein Dutzend Corona-Partys im Regierungssitz in der Downing Street, die das Land seit Monaten empören. Johnson hatte zunächst behauptet, es habe keine Partys gegeben; später leugnete er jede Kenntnis von deren Vorbereitung und beteuerte, er habe Zusammenkünfte mit Alkohol und Snacks "für Arbeitstreffen gehalten". Die Spitzenbeamtin Sue Gray prangerte in einem Untersuchungsbericht das "Versagen von Führungsqualität und Urteilsvermögen" an. Vom "Vakuum an der Spitze der Regierung" spricht Nick Timothy. Der Mann weiß, wovon er redet: Ein Jahr lang war er bis 2017 Büroleiter der glücklosen Premierministerin May.

Zum anderen stehen den Tories nach dem schweren Rückschlag bei der Kommunalwahl Anfang Mai schon bald neue Schlappen ins Haus, wodurch Johnsons Ruf als stetiger Wahlsieger weiter angekratzt wird. Landesweit liegen die Konservativen seit Monaten deutlich hinter der Labour Party von Oppositionsführer Keir Starmer.

Nachwahlen am 23. Juni

Am Sonntag erschreckten neue Hiobsbotschaften all jene Tory-Abgeordneten, deren Sitze bei der nächsten, voraussichtlich Mitte 2024 anstehenden Wahl gefährdet sind. Umfragen zufolge dürften die Konservativen bei zwei Nachwahlen am symbolisch wichtigen 23. Juni – dem sechsten Jahrestag des Brexit-Referendums – deutlich verlieren. Beide Mandatsträger mussten nach Sexskandalen zurücktreten.

In Westminster wurde zuletzt immer häufiger der Verdacht laut, die Konservativen seien sich nach ihrem klaren Wahlsieg im Dezember 2019 und mittlerweile zwölf Regierungsjahren ihrer Sache allzu sicher. Zu diesem Eindruck hat das Verhalten des Premierministers beigetragen.

Gereizte Stimmung

Am klarsten hat dies schon vor einigen Wochen Jeremy Hunt benannt, unter David Cameron und Theresa May nacheinander Kultur-, Gesundheits- und Außenminister. Am Montag bekräftigte der 55-Jährige seine Meinung, wonach seine Partei unter Johnson das Land nicht auf integre und kompetente Weise führen könne: "Wir haben die Wahl zwischen dem Verlust der nächsten Wahl und einem Wechsel. Ich stimme für den Wechsel."

Wie gereizt die Stimmung unter den Torys mittlerweile ist und auf absehbare Zeit bleiben dürfte, verdeutlichte später eine Reihe von Tweets der überaus Johnson-loyalen Kulturministerin Nadine Dorries. Darin bezichtigte sie Hunt der Doppelzüngigkeit und Unfähigkeit: "Sie hatten bei fast allem unrecht, jetzt haben Sie wieder unrecht." (Sebastian Borger aus London, 6.6.2022)