Die Covid-Impfpflicht wurde entschieden, aber nicht umgesetzt. Russische Vermögenswerte sollten eingefroren werden, die Umsetzung stockt. Die Energiewende wurde mit Zweidrittelmehrheit beschlossen, die Umsetzung scheitert an Anrainern, Verfahrenshürden und dem Florianiprinzip. Nicht nur in Österreich haben wir unsere liebe Not mit der Umsetzung, wie man an Joe Bidens Infrastrukturreform, der deutschen Autobahnmaut oder diversen Pipeline-Projekten sieht. Bert Brechts Gedicht wurde sprichwörtlich: "Die Mühen der Berge haben wir hinter uns, vor uns liegen die Mühen der Ebenen." Im Unterschied zur glorreichen Entscheidung lässt sich mit der darauffolgenden Umsetzung kein Schönheitspreis gewinnen.

Das Handwerk der Entscheidung lernen wir hoffentlich in Managementausbildungen. Für mehr Führungskompetenz zahlen Manager teure Seminare, damit sie ihre Mitarbeiter nicht mehr demütigen und demotivieren. Die Kunst der Umsetzung von Entscheidungen blieb bislang im Dunkeln. Darauf fokussiert jetzt das neue Buch von Stefan Titscher. Der emeritierte Soziologieprofessor schöpft aus seiner jahrzehntelangen Erfahrung in der Beratung von Unternehmen und öffentlichen Verwaltungen und aus seiner eigenen Führungs- und Managementerfahrung. Titscher war nicht zuletzt maßgeblich an der Umsetzung der Universitätsreform 2002 beteiligt – eine der wenigen Großreformen, die von den meisten als gelungen eingeschätzt werden.

Einfluss von Beziehungen

Das Buch lässt die Lesenden eintauchen in Netzwerke von Ressourcen und Macht, in Beziehungen mit Shareholdern und Stakeholdern, die man nolens volens eingehen muss, pflegen oder vermeiden sollte. Es unterscheidet zwischen Unentschlossenen und Widerständlern, lässt Dilbert und Diogenes zu Wort kommen.

Titscher beschäftigt sich mit vernachlässigten Themen, die bei jeder Umsetzung eine wichtige Rolle spielen: Tratsch und Gerüchte. Wer kennt das nicht? Tratsch, also das abfällige Gerede über Abwesende, gründet auf der Annahme, dass die Anwesenden zusammengehören oder zumindest einiges gemeinsam haben. Wer mit Tratsch beginnt, zieht andere in sein Netz. Man kommt aus dieser Situation nur schwer heraus, weil das die Zurückweisung eines Beziehungsangebots bedeutete. Das fällt uns schwer. Reziprozität ist eine der stärksten sozialen Kräfte: Wer dir Vertrauen und Komplimente schenkt, wer dich lobt, dem schuldest du Erwiderung, der erntet deine Sympathie. Das Buch liefert eine konzise Analyse dieses Phänomens.

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Tratsch und Gerüchte spielen bei jeder Umsetzung eine wichtige Rolle.
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Drei Ebenen

Das Buch hofft auf Entscheidungsträger jeglicher Art, die lesen können und wollen, und bietet ihnen drei Ebenen. Erstens, der analytische Text, der die Rahmenbedingungen der Umsetzung beschreibt. Verdichtet wird dies am Ende in einer Kraftfeldanalyse, wie sie der Begründer der modernen Sozialpsychologie Kurt Lewin vorgeschlagen hat: Jeder Status quo ist das Ergebnis von treibenden und hemmenden Kräften, und wer diesen Status quo verändern will, muss einzelne dieser Kräfte stärken, schwächen oder umleiten. Das Paul-Klee-Gemälde auf dem Buchdeckel illustriert solch ein Kraftfeld.

Die zweite und schier unerschöpfliche Ebene findet sich in den Fußnoten. Das sind nicht einfach Ergänzungen, sondern Bildungsfußnoten, die man lesen kann, aber nicht muss. Freilich entginge einem dann ein Reichtum an Verweisen auf empirische sozialwissenschaftliche Befunde, auf philosophische Quellen, auf Geschichte und Weltliteratur, die einen in ein eigenes Wissensuniversum eintauchen lassen, aber auch die Redlichkeit des Unterfangens untermauern.

Drittens gibt es für die Pragmatiker Checklisten und Fragen am Ende jedes Kapitels, zum Beispiel zu Netzwerken: Welche zentralen Personen können die Umsetzung beeinflussen? Warum können sie das? Haben sie einen guten Draht zu Personen, die einen Gegner beeinflussen können? Zur Illustration verweist Titscher auf viele Beispiele aus Unternehmenspraxis, Populärkultur und Geschichte. Die gescheiterten Megafusionen der jüngeren Wirtschaftsgeschichte sind genauso ein zur Demut aufrufendes Mahnmal wie das Taurus-Projekt der Londoner Börse oder das Bergbauunternehmen Rio Tinto, das 2020 gröbere Probleme mit seinen Shareholdern und Stakeholdern bekam, weil es Stätten vernichtet hatte, die den australischen Aborigines heilig waren. Wenn sich unternehmensintern Widerstand formiert, kann das auch ganz schön teuer werden.

Keine einfachen Antworten

Das Buch ist nichts für simple Gemüter und auch nichts für Manager und Managerinnen auf der Suche nach der schnellen Inspiration, der neuesten Mode und einfachen Antworten. Vielmehr ist es ein Buch für diejenigen, die soziale Prozesse besser verstehen wollen. Ganz besonders denjenigen, die im Großen oder Kleinen bereits die leidvolle Erfahrung gemacht haben, bei der Umsetzung ihrer glänzenden Entscheidungen zu scheitern, bietet es nicht nur Trost und Rat.

Es bietet auch Erklärung und Hoffnung. Am Scheitern ist selten ein einziger Faktor schuld, und bei angemessener Berücksichtigung von Organisation, Macht und Ressourcen, Netzwerken und Beziehungen und nicht zuletzt der persönlichen Fähigkeiten und Eigenschaften sollte sich so manches Umsetzungsfiasko vermeiden lassen. Schade nur, dass sich wenige Entscheidungsträger so viel Zeit zum Lesen nehmen werden. (Michael Meyer, 7.6.2022)