Der Vorteil, den der Wechsel in die wärmere Jahreszeit auf das Infektionsgeschehen hat, ist laut Fachleuten nun ausgeschöpft.

Foto: TOPPRESS Austria/Karl Schöndorfer

Dass die Corona-Infektionszahlen heuer früher steigen werden als noch im vergangenen Sommer, davon ist man in Fachkreisen ausgegangen. Der Herbstwelle werde wohl heuer schon eine Sommerwelle vorausgehen, sind sich Expertinnen und Experten in ihren Prognosen weitestgehend einig. Grund dafür sei auch die Ausbreitung von BA.4 und BA.5. Noch ist der Anteil der beiden Omikron-Subvarianten laut Hochrechnungen allerdings gering – BA.2 ist in Österreich immer noch die dominierende Variante.

Für den aktuellen Anstieg der Zahlen sind BA.4 und BA.5 demnach "nicht allein ausschlaggebend", sagt das Team rund um den Simulationsforscher Niki Popper. Stattdessen ist dafür eine Mischung verschiedener Faktoren wie rückläufige Immunisierung, geändertes Kontaktverhalten oder die Signaleffekte der Maßnahmenreduktion verantwortlich.

Wann eine neue Welle kommt, ist nicht genau vorhersehbar

Man könne es sich nicht erklären, heißt es von Fachleuten auf Nachfrage des STANDARD – demnach ist derzeit nur eine Annäherung an eine mögliche Erklärung für die leicht steigenden Zahlen möglich. Michael Wagner, Mikrobiologe von der Uni Wien, plädiert für verlässliche Daten aus repräsentativen Stichproben, wie sie etwa das Office for National Statistics in England erhebt. Ein paar Tausend Menschen werden dort in regelmäßigen Abständen – unabhängig von Symptomen – getestet: "Das brauchen wir auch in Österreich im gesamten Lauf der Pandemie." Mit der breiten Lockerung der Maßnahmen habe man zudem ein Signal gesendet, sagt Wagner.

Laut Poppers Team spielen im Moment mehrere Faktoren eine tragende Rolle im Infektionsgeschehen: etwa die zirkulierende Virusmutation, die Saisonalität und die Immunisierung der Gesellschaft. "Die Zahlen werden steigen, wie schnell das passiert ist nicht genau zu sagen, weil die Effekte durch die verschiedenen Faktoren sehr sensitiv sind", so Popper.

Immunität gegenüber BA.2 sinkt "recht schnell"

Entscheidend für den aktuellen Anstieg könnte die Immunisierung der Bevölkerung sein. Der Schutz vor einer Infektion mit der dominierenden Variante BA.2 nimmt ab, beobachtet Popper: "Die Immunität sinkt recht schnell." Vor zwei Monaten noch waren in den Modellrechnungen fast 80 Prozent der Bevölkerung immun gegen die Virusvariante, bald sind es wohl nur noch 60 Prozent, zeigen die Modellrechnungen von Poppers Team – "eine beträchtliche Anzahl an Menschen, die sich wieder anstecken kann".

Der Molekularbiologe Ulrich Elling von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften sieht auch in der Umstellung des Soziallebens eine mögliche Ursache. "Alles, was im Winter nicht stattfinden konnte, wird gerade nachgeholt." Damit seien Großveranstaltungen wie Festivals, aber auch Meetings und Konferenzen gemeint. "Wir sehen, dass die Infektionszahlen vor allem bei jungen Erwachsenen im Alter zwischen 25 und 35 ansteigen. Das würde zu dieser Theorie passen."

Saisonalitätseffekt ausgeschöpft

Dass die Infektionszahlen bis vor kurzem gesunken sind, lag laut Popper an der hohen Immunisierung – auch durch Genesung – und an der Saisonalität. Der Vorteil durch die wärmere Jahreszeit sei jetzt allerdings ausgeschöpft: "Die letzten Wochen ist der Saisonalitätseffekt immer noch stärker geworden", erklärt Popper. Jetzt sei ein Plateau erreicht.

Für Elling könnte auch das Herunterfahren der Tests in den letzten Wochen ein Grund für die sehr niedrigen Zahlen gewesen sein. "Was wir da gesehen haben, ist die gemessene Kurve – nicht unbedingt die reale."

Dazu komme eine "extrem dynamische Immunisierung gegen Infektion", das heißt: Der Schutz vor Ansteckung variiert in der Bevölkerung je nach Impf- und/oder Genesungsstatus. Ein entscheidender Unterschied, der einen Vergleich zum Vorjahr nahezu obsolet macht: "Im Frühling 2021 war einer der Hauptfaktoren das zusätzliche Impfen, das das System laufend verändert und für ansteigenden Schutz auch gegen Infektion gesorgt hat. Jetzt senken die Impfungen vor allem die Hospitalisierungsraten." (Magdalena Pötsch, Jasmin Altrock, 8.6.2022)