Nachrichten über verschwundene oder vom Aussterben bedrohte Arten sind schon alltäglich geworden. Der vom Menschen ausgelöste Biodiversitätsverlust hat ein Ausmaß erreicht, dass Wissenschafterinnen und Wissenschafter von einem sechsten großen Massenaussterben sprechen. Exemplarisch für den Ernst der Lage stehen die Schildkröten: Seit mehr als 220 Millionen Jahren gibt es diese eigentlich sehr anpassungsfähigen Tiere auf unserem Planeten, doch sie geraten zunehmend in Bedrängnis. Erst im Vorjahr berichtete ein Forschungsteam, dass fast die Hälfte aller heute lebenden Schildkrötenarten, nämlich 171 von 357, akut gefährdet sind.

Umso erfreulicher ist die Überraschung, die ein Team um Stephen Gaughran von der Princeton University nun im Fachmagazin "Communications Biology" vermeldet: Die seit Jahrzehnten als ausgestorben geltende Galápagos-Riesenschildkröte Chelonoidis phantasticus ist doch noch am Leben. Wie es sich für eine Schildkröte gehört, schaffte sie ihre offizielle Rückkehr auf die Liste der rezenten Schildkrötenarten langsam und gemächlich.

Fernanda, die derzeit einzig bekannte Vertreterin der Fernandina-Riesenschildkröten.
Foto: Galápagos Conservancy

113 Jahre lang verschwunden

Zum ersten und lange Zeit einzigen Mal hatten Forschende Chelonoidis phantasticus 1906 auf der drittgrößten Galápagos-Insel Fernandina gesichtet und beschrieben. Die Existenz der auch Fernandina-Riesenschildkröte genannten Art sorgte aber schon bald für Zweifel in der Fachwelt: Denn abgesehen vom Erstfund, einem Männchen, blieb das Tier verschwunden. "Lange wurde spekuliert, dass das 1906 gefundene Exemplar auf die Insel gebracht worden war", sagte der emeritierte Zoologe Peter Grant, der seit Jahrzehnten zur Evolution auf den Galápagos-Inseln forscht. So wurden etwa Seefahrer als Schildkrötentransporteure vermutet.

113 Jahre sollte es dauern, bis auf der Insel erneut eine Riesenschildkröte auftauchte: 2019 wurde ein weibliches Exemplar entdeckt. Ob es sich dabei aber wirklich um die "fantastische Riesenschildkröte" Chelonoidis phantasticus handelte, war umstritten. Dazu trug auch das Aussehen des Weibchens bei, das nicht nur deutlich kleiner ist als das 1906 gefundene Tier, sondern im Gegensatz zu diesem auch eine etwas andere Panzerform aufweist.

Dieses 1906 gefundene und "gesammelte" Exemplar blieb lange Zeit die einzige Spur zur Spezies Chelonoidis phantasticus.
Foto: California Academy of Sciences

"Wie viele Leute hatte auch ich zunächst den Verdacht, dass es sich dabei nicht um eine auf Fernandina heimische Schildkröte handelt", sagte Stephen Gaughran, einer der Studienautoren. Doch woher stammt das Tier dann?

Genetische Spurensuche

Um endgültig Licht ins gepanzerte Dunkel zu bringen, bediente sich das Forschungsteam genetischer Methoden: Die Expertinnen und Experten sequenzierten das vollständige Genom des 2019 entdeckten Weibchens und verglichen es mit Daten, die sich aus dem historischen Exemplar gewinnen ließen. Außerdem wurden die genetischen Daten beider Tiere mit Proben von 13 anderen Galápagos-Schildkrötenarten verglichen, darunter alle zwölf lebenden Arten und die ausgestorbene Spezies C. abingdonii.

Das Ergebnis habe ihn ehrlich überrascht, sagte Gaughran: Im Erbgut der beiden im Abstand von 113 Jahren auf Fernandina entdeckten Tiere fanden sich große Übereinstimmungen, zu allen anderen Galápagos-Schildkröten gab es dagegen deutliche Unterschiede. Mit anderen Worten: Die Fernandina-Riesenschildkröte ist eindeutig als eigenständige Art bestätigt – und sie existiert noch heute.

Fortbestand ungewiss

Die Biologinnen und Biologen vermuten, dass Fernanda, wie das Weibchen nun heißt, deutlich über 50 Jahre alt ist und, möglicherweise aufgrund fehlender Ressourcen in ihren Jungendjahren, nicht vollständig ausgewachsen ist.

Ist Fernanda allein? Kotspuren lassen darauf hoffen, dass es noch zwei, drei weitere Exemplare auf der Insel geben könnte.
Foto: Galápagos Conservancy

Ist Fernanda nun aber die Letzte ihrer Art oder hat Chelonoidis phantasticus eine Zukunft? Diese Frage bleibt vorerst offen, schreibt das Forschungsteam. Einen kleinen Hoffnungsschimmer gibt es immerhin – in Form von Kotspuren auf der Insel, die auf die Anwesenheit von zwei oder drei weiteren Schildkröten hinweisen.

Sollten diese Tiere gefunden werden, wäre vielleicht ein Zuchtprogramm zum Erhalt der Art denkbar, sagte Adalgisa Caccone von der Yale University, die an der Studie ebenfalls beteiligt war. "Aber da gibt es noch viele Rätsel zu lösen." (David Rennert, 10.6.2022)