Der französische Verfassungsgerichtshofspräsident Laurent Fabius hält seine Verfassung für "stabil und flexibel zugleich".

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Braucht Frankreich eine neue Verfassung, also eine sechste Republik, mit weniger Macht für den Staatspräsidenten und einer Aufwertung des Parlaments? So lautet die Forderung des Linkspopulisten Jean-Luc Mélenchon, der mit seinem Linksbündnis die Parlamentswahl am Sonntag zu gewinnen hofft und dann das Amt des Premierministers anstrebt.

Laurent Fabius, Präsident des französischen Verfassungsgerichtshofs, hat da seine Zweifel. Er sei der jetzigen Verfassung verpflichtet und halte sie für zeitgemäß, sagt er im STANDARD-Gespräch während eines Besuchs in Wien. "Ein Vorteil der französischen Verfassung ist, dass sie sich an verschiedene schwierige Situationen angepasst hat", sagt der moderate Sozialist, der in den 1980er-Jahren unter François Mitterrand als jüngster Premier Frankreichs diente und in den folgenden Jahrzehnten zahlreiche Ministerposten besetzte. "Das System ist stabil und flexibel zugleich. Bevor wir etwas Grundlegendes verändern, sollten wir alle Vor- und Nachteile bedenken."

Reformbedarf ortet Fabius bei der Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger an der Politik, die über den Gang ins Wahllokal alle fünf Jahre hinausgehen sollte. Das sei auch ein Vorhaben von Staatspräsident Emmanuel Macron.

"Parlament kann nicht alles entscheiden"

Sorgen bereitet Fabius, der seit 2016 das Verfassungsgericht leitet, die Haltung einiger EU-Staaten wie Ungarn und Polen, die den Vorrang des EU-Rechts nicht akzeptieren wollen. Fabius dazu: "Wer ein Mitglied im Club sein will, muss sich an die Regeln halten. Wenn eine Regierung sich gegen das Unionsrecht stellt, haben wir Grund zur Sorge. Und wir müssen wachsam bleiben, denn das kann ansteckend sein."

Laurent Fabius mit seinem österreichischen Amtskollegen Christoph Grabenwarter zu Besuch im Verfassungsgerichtshof in Wien.
Foto: VfGH/Achim Bieniek

Angesprochen auf die Tatsache, dass auch eine Reihe von Präsidentschaftskandidatinnen und -kandidaten, darunter Melénchon und die Rechtspolitikerin Marine Le Pen, das nationale Recht Frankreichs über das Unionsrecht stellen wollen, verweist Fabius auf die Verfassung, die den Spielraum des Parlaments einschränkt. "Ein Parlament braucht Leitprinzipien, an die es gebunden ist, und kann nicht alles entscheiden. Das wollen manche Damen und Herren nicht akzeptieren. Die glauben, das Parlament kann alles tun. Es ist die Aufgabe des Verfassungsgerichts, daran zu erinnern, dass Gesetze höheren Prinzipien entsprechen müssen, die über dem Gesetz stehen."

Grabenwarter verteidigt deutsches Bundesverfassungsgericht

Dass Länder wie Polen gerne das Beispiel des deutschen Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe anführen, das zumindest in einer Entscheidung zur Währungsunion den absoluten Vorrang des Europäischen Gerichtshofs infrage gestellt hat, hält Fabius' österreichischer Gastgeber und Amtskollege Christoph Grabenwarter für unangebracht. "Der Gerichtshof in Karlsruhe ist ein stabilisierender Faktor in Europa. Wichtig ist ihm, dass das Parlament in allen grundlegenden Entscheidungen involviert ist. Jeder Versuch, das Bundesverfassungsgericht für antieuropäische Zwecke zu nutzen, kann leicht zurückgewiesen werden," sagt der Präsident des Verfassungsgerichtshofs.

Sowohl Fabius als auch Grabenwarter sehen eine zunehmend wichtige Rolle der Justiz in der europäischen Klimapolitik. In Deutschland und den Niederlanden hätten die Gerichte ein entschlosseneres Vorgehen der Politik gegen die Erderwärmung eingefordert. Grabenwarter verweist darauf, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) das Prinzip der positiven Verpflichtungen für Umweltschutz bereits seit den 1980er-Jahren angewandt hat. "Es wäre nichts Neues, wenn ein Verfassungsgericht prüft, ob diese auch erfüllt worden sind."

Auch in Frankreich würden die Klimaklagen zunehmen, sagt Fabius. "Das entspricht den Sorgen der Gesellschaft. Dieser Prozess beschleunigt sich, weil sich das Problem beschleunigt. Die Klimakrise ist die Aufgabe der Parlamente. Aber wenn es ein Problem gibt, dann wird es unsere Aufgabe." (Eric Frey, 11.6.2022)