Wien – Alle drei Zentimeter im Abstand von einem halben Meter wächst ein Saatkorn. Vier Zentimeter tief im Boden keimt es, bis es nach vier bis sieben Tagen austreibt. Unscheinbar und bescheiden macht sich Soja auf Österreichs Feldern aus, Allüren sind der Bohne fremd. Sie verlangt keinen chemischen Dünger, sondern versorgt sich über Knöllchenbakterien selbst mit Stickstoff. Pestizide schaden mehr, als sie ihr nutzen, denn Insekten und Krankheiten können ihrer robusten Gesundheit wenig anhaben. Nur Hasen knabbern gern an den zarten Pflänzchen. Für ihre Kultivierung empfehlen sich daher Schutzzäune oder gute Kontakte zum örtlichen Jäger.

Die Preise für Rohstoffe steigen. Wie viel Kraft für einen Systemwechsel in der Landwirtschaft steckt in der Hülsenfrucht?
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Ludwig Birschitzky übt sich im Burgenland seit den 90er-Jahren im biologischen Anbau von Soja. Die ersten Versuche scheiterten. Das Saatgut eignete sich schlecht für das Klima im Seewinkel. Lebensmittelproduzenten ließen es links liegen, der Verdienst war mager. Seit sich Konsumenten der Hülsenfrucht als pflanzliche Eiweißquelle besannen, geht jede Ernte jedoch weg wie warme Semmeln. Die durch Corona-Pandemie und Ukraine-Krieg ausgelöste Rohstoffknappheit treibt die Preise zusätzlich rasant nach oben.

700 Euro pro Tonne zahlten Agrarhändler im Vorjahr. Heuer liegen die Anbote bei gut 800 bis 900 Euro. Europaweit reißen sich Verarbeiter um Soja aus Österreich. Immer mehr Bauern steigen auf die mittlerweile gut an den Standort angepassten Sorten um. "Die Zeiten, in denen wir belächelt wurden, sind vorbei", sagt Birschitzky. "Die Leute nennen uns jetzt Retter der Regenwälder."

Angst vor Hungersnöten

Keine Nutzpflanze ist umstrittener als Soja. Als Futter für Rinder und Schweine nährt es die industrielle Massentierhaltung und mit ihr die Gier nach Fleisch. Auf Monokulturen in Südamerika angebaut, fallen ihm Regenwälder und Savannen zum Opfer. Der Schmetterlingsblütler wurde zum Sinnbild für schwere Umweltsünden, Landraub und soziale Missstände. Bis Vegetarier die Bohne als Fleischersatz lieben lernten. Viele Agrarexperten schreiben ihr seither die Macht zu, das Klima und damit die ganze Welt zu retten.

In Zeiten drohender Hungerkrisen in Afrika und Asien, die der Verletzlichkeit der internationalen Lieferketten geschuldet sind, gerät Soja erneut zwischen die Fronten. Ökonomen und Umweltorganisationen fordern ein Ende des exzessiven Fleischkonsums. Getreide soll weniger in Futtertrögen als auf den Tellern der Konsumenten landen. Die EU ringt um eine neue Eiweißstrategie: Ziel ist es, Soja vermehrt in Europa anzubauen. Die massive Abhängigkeit von Importen soll sinken.

Keine Nutzpflanze ist umstrittener als Soja. In der Globalisierung spielte sie eine Schlüsselrolle.

Ernst Langthaler, Experte für Ernährungs- und Agrargeschichte der Kepler-Uni Linz, vergleicht das Potenzial der Bohne mit der literarischen multiplen Persönlichkeit eines Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Es ist ihre Paradoxie, die den Historiker fasziniert – und ihre Schlüsselrolle für die Globalisierung. Soja sei vor allem in Krisenzeiten gefragt, sagt Langthaler. "Sei es, weil Ressourcen knapp werden, sei es, weil die Preise von Weizen und Baumwolle kollabieren oder ausgelaugte überstrapazierte Böden nach anspruchsloser Saat verlangen."

Von der Wunder- zur Nazibohne

Die Wurzeln des Sojas reichen in Asien mehr als 3.000 Jahre zurück. Europäische Gelehrte stießen im 18. Jahrhundert auf die Bohne. Sie blieb ein Kuriosum, bis sie der österreichische Pflanzenbauexperte Friedrich Haberlandt 1873 während der Weltausstellung in Wien für sich und die Wissenschaft entdeckte. Doch der Pionier des Sojas starb jung. Der Hype um das Multitalent unter den Feldfrüchten verebbte. Europas Küche war für Soja kulinarisch noch nicht bereit.

Erst in Zeiten der Industrialisierung priesen die Europäer Soja als Wunderbohne, die dank ihres hohen Proteingehalts von 40 Prozent die Ernährung der wachsenden Bevölkerung sichern sollte. Im Ersten Weltkrieg gewannen die Amerikaner aus ihrem Öl Nitroglyzerin für den Bombenbau. Im Zweiten Weltkrieg wollte die deutsche Wehrmacht mit ihren Nährstoffen Soldaten für den Überfall auf halb Europa rüsten; der Ruf der Nazibohne haftete ihr an.

Hand in Hand mit Monsanto

Den Durchbruch erlebte Soja Mitte des 20. Jahrhunderts – angetrieben vom Hunger der Mittelschicht nach Fleisch. Sein von den USA ausgehender globaler Siegeszug ging Hand in Hand mit Monsanto: Der Chemieriese verkaufte Farmern Gentechnik und Glyphosat im Paket. Soja wurde gentechnisch verändert, um gegen den Unkrautvernichter resistent zu sein. Doch auch immer mehr Unkräuter wurden gegen das hart umstrittene Herbizid immun. Das zwang Landwirte, noch stärkere Gifte zu spritzen.

80 Prozent der weltweiten Sojaernte werden verfüttert.
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Trotz unerwünschter Nebenwirkungen wurde Soja nach Mais und Weizen die meistgehandelte Nutzpflanze der Welt. In den 60er-Jahren wog ihre globale Produktion 27 Millionen Tonnen. 2021 waren es bereits 384 Millionen Tonnen.

80 Prozent der weltweiten Ernte fließen in die Tiermast, weniger als fünf Prozent werden direkt konsumiert. Versteckt findet sich die Leguminose in Süßwaren und Fertiggerichten ebenso wie in Kosmetika, Farben und Folien. Ein Mitteleuropäer verbraucht von ihr im Schnitt, meist ohne sich dessen bewusst zu sein, rund 60 Kilo im Jahr. Das entspricht seinem Konsum an Erdäpfeln.

Brasilien löste die USA als größtes Anbauland für Soja ab. Größter Importeur ist China, sein einst wichtigster Produzent. Europa deckt gut 95 Prozent seines Bedarfs aus Importen und lässt die Bohne auf nur einem Prozent seiner Ackerfläche gedeihen. Es ist ein Ungleichgewicht, das in Zeiten von Rohstoffengpässen zur Achillesferse wird.

Fehlende Kostenwahrheit

Dass Soja aus den USA zum Exportschlager wurde, verdankte es dem Verzicht der Europäer auf Zölle auf Ölsaaten. Dass Soja aus Südamerika die ganze Welt eroberte, liegt an seinem unschlagbar niedrigen Preis. Rinder und Schweine, die mit der zu Schrot verarbeiteten Eiweißbombe gemästet wurden, verloren ihren Luxusstatus. Wer wollte, konnte sich Burger, Schnitzel und Schinken fortan täglich auf den Tisch holen. Zugute kommt der Bohne, dass sie Tiere rasch wachsen lässt – zugleich aber ihr Fleisch mager macht: Die Sau als standardisiertes Massenprodukt wurde leichter verdaulich."

Fünf Kilo Futter ergibt ein Kilo Schweinefleisch. Effizient ist das nicht.
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"Fleisch war lange Zeit spottbillig, weil seine ökologischen und sozialen Kosten nicht eingepreist wurden", resümiert Langthaler. Um den Fleischkonsum nachhaltig zu reduzieren, brauche es Kostenwahrheit.

Auch in Österreich landet Soja, anders als es Pflanzenforscher Haberlandt vor knapp 150 Jahren vorschwebte, in rauen Mengen im Trog. Nutztiere werden hierzulande mit jährlich gut 670.000 Tonnen an vorwiegend importiertem Sojaschrot gemästet.

Effizient ist das nicht. Für ein Kilo Schweinefleisch braucht es fünf Kilo Futter. Bei Hendlfleisch liegt das Verhältnis bei eins zu drei, bei Rindern bei eins zu zehn, rechnet Matthias Krön vor und spricht von einer massiven Kalorienverschwendung.

Ende der Ära Fleisch?

Der Gründer des Vereins Donau Soja war einst Manager in der Milchindustrie. Heute setzt er sich für regionalen, biologischen und Gentechnik-freien Sojaanbau in Europa ein. Er will die Bohne weder vergöttern noch verteufeln. "Sie ist Teil des Problems der Klimakrise, aber auch Teil ihrer Lösung." Was sie für ihn so unentbehrlich macht, sei das Potenzial zur Systemveränderung, das in ihr stecke. "Verändern wir den Konsum von Eiweiß, verändern wir unsere gesamte Landwirtschaft. Es ist die Stellschraube, an der wir drehen müssen."

Aus seiner Sicht ist die Rechnung einfach: Wer mehr Soja isst, reduziert den Bedarf an Fleisch, wodurch es weniger Soja für Futter braucht. "Damit schaffen wir mehr Raum für extensive Landwirtschaft."

Matthias Krön, Gründer des Vereins Donau Soja: "Viele Fleischproduzenten sind in der Defensive. Ihr Ansehen in unserer Gesellschaft ist nur noch gering."
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Für Krön deutet nicht erst seit der starken Teuerung viel darauf hin, dass sich die Ära des hohen Fleischkonsums ihrem Ende zuneigt. Der Anreiz für junge Bäuerinnen und Bauern, ihr Auskommen in der Massentierhaltung zu suchen, schwinde. "Viele Fleischproduzenten sind in der Defensive. Ihr Ansehen in unserer Gesellschaft ist nur noch gering. Das darf man nicht unterschätzen."

Starken Zuspruch erlebt Hühnerfleisch. Krön nennt es "das Tofu der Armen", das den Schritt hin zu mehr pflanzlicher Ernährung erleichtere. Was bewirkt die wachsende Zahl an Gütesiegeln, die treuen Fleischliebhabern weniger Tierleid und bessere Futtermittel versprechen? Er setze Tiere nicht mit Menschen gleich, sagt Krön. "Aber ehe man die Sklavenhaltung abschaffte, wurde sie zertifiziert."

Der Sojaexperte hält in Europa langfristig gar eine völlige Fleischabstinenz für wahrscheinlich: Vielleicht pilgerten die Menschen in Zukunft ja als "Grilltouristen" in ferne Länder, in denen Steaks und Koteletts nicht verpönt seien.

Landwirte wehren sich

Bisher wurde pflanzliches Eiweiß allerdings finanziell weniger gefördert als tierisches – mit der Folge, dass sich Brot, Obst und Gemüse in den vergangenen Jahrzehnten weit stärker verteuerten als Fleisch. "Das ist politisch gewollt."

Dass rein pflanzliche Ernährung in der Agrarwirtschaft auf erbitterten Widerstand stößt, sie diese als Anschlag auf ihre Branche empfindet, überrascht Krön nicht. Schließlich sei die Hälfte der österreichischen Landwirte auf Nutztiere angewiesen. "Wer Tofu erzeugt, braucht keine Ställe." Weniger Vieh führe zu weniger Bauern. Womit die Branche neben Wertschöpfung ihre politisch gewichtige Stimme verliere.

Soja enthält 40 Prozent Protein. Die Geschichte der Bohne reicht in Asien mehr als 3.000 Jahre zurück.
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Auch Johann Vollmann, Experte für Pflanzenzucht an der Wiener Boku, ist überzeugt, dass der Fleischkonsum deutlich sinken muss. Soja sei trotz aller Kontroversen ein Schlüssel zur Rettung des Klimas und zur Sicherung der Ernährung. "Die guten Eigenschaften der Bohne wurden zu lange ins Negative gekehrt."

"Gewaltiges Potenzial"

Vollmann forscht an neuen, ertragreicheren Sojasorten. Sein Ziel sind Bohnen mit mehr Protein und weniger Öl, ohne Allergene und mit besserem Geschmack. "Ihr wirtschaftliches Potenzial für die Lebensmittelindustrie ist gewaltig."

Wie hält es die Fleischnation Österreich mit der Pflanze? Die Anbauflächen für Soja wurden seit 2004 auf mehr als 75.000 Hektar vervierfacht. Ein Drittel der Ernte von gut 230.000 Tonnen im Vorjahr war bio. Die eine Hälfte nährt Nutztiere, primär Hühner, bei denen Konsumenten Wert auf Gentechnikfreiheit legen. Die andere Hälfte wird ohne den Umweg des Fleisches zu Nahrungsmitteln verarbeitet.

Österreich ist bei Bio wie der Verarbeitung von Lebensmittelsoja Spitzenreiter in der EU und liefert ein Drittel des dafür notwendigen Saatguts. Heuer wachsen die Anbauflächen um zehn bis 15 Prozent. Ziel ist es, die Grenze von 100.000 Hektar zu sprengen und ein Drittel des Sojabedarfs selbst zu decken. Dass die Pflanze keinen zusätzlichen Stickstoff braucht, sondern den Boden damit auch für nachfolgende Kulturen anreichert, kommt Landwirten in Zeiten des knappen und kostspieligen Düngers entgegen.

Tofu-Produzentin Ulla Wittmann und Biolandwirt Ludwig Birschitzky: "Die Leute nennen uns jetzt Retter der Regenwälder."
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Landwirt Birschitzky brachte seine Saat Anfang April aus. Mit kammähnlichen Geräten fuhr er über die Felder, um sie von Unkraut zu befreien, bis ihr Blätterdach dicht genug war, um Nebenbuhler in den Schatten zu stellen. Warm und feucht liebt Soja es im Frühjahr. Mitte August verfärbt es sich von sattem Grün in Zitronengelb und trocknet aus. Im September wird mit dem Mähdrescher geerntet – mit geringer Drehzahl, um die empfindlichen Keimlinge nicht zu schädigen.

Tofu ist eine Diva

Ein Teil des Ertrags bleibt in Birschitzkys Familie. Seine Lebensgefährtin Ulla Wittmann verarbeitet die Bohne in ihrer Manufaktur Manufaba in Frauenkirchen im Burgenland zu Biotofu. Monatelang hatte sie in ihrer Küche mit der Veredelung der Leguminose experimentiert, erinnert sich Wittmann – bis das Rezept aufging. Mittlerweile sind alle ihre Auftragsbücher voll. Abnehmer ist die Gastronomie. Auch über regionale Märkte und den Hofladen wird verkauft. Lieferungen an Supermarktkonzerne lehnt sie trotz Anfragen ab. "Das passt nicht zu meiner Philosophie."

Ein Kinderspiel ist die Produktion nicht, vielmehr heikle und körperlich herausfordernde Arbeit. Ein Kilo Soja wird zu zwei Kilo Tofu. Dazwischen liegen Reinigung, Einweichen, Waschen, Sieben, Vermahlen, Kochen, Rühren, Pressen und Schwemmen. Unpasteurisiert ist der sogenannte Bruch nur kurz haltbar. Die Hygieneanforderungen sind enorm. Die Bohne an sich ist bodenständig, Tofu hingegen ist eine Diva.

Mit "einer gummiartigen Substanz", die Feinschmecker das Gesicht verziehen ließ, habe dieses nichts mehr gemein, ist Wittmann überzeugt. "Die Zeiten, in denen Soja als bloßer Fleischersatz Schnitzel und Burger imitieren musste, sind vorbei." (Verena Kainrath, 11.6.2022)